«Mir häbe Sorg!»

Der Schulleiter und ehemalige Schiedsrichter, Bruno Grossen
Bruno Grossen aus Frutigen liebt Fussball. Der einstige Schiedsrichter pfiff 60 Spiele der Super League. Heute ist er Schulleiter in Reichenbach und hat das Motto «Mir häbe Sorg» eingeführt. Alle sollen eine Kultur der Sorgfalt leben und pflegen.

«Das Fussballreglement hat 138 Seiten – trotzdem kann man sich uneins sein, welche Entscheidung gerecht ist», weiss Bruno Grossen. Er habe darunter gelitten, als Schiedsrichter Strafen aussprechen zu müssen. Seit 2020 ist er Gesamtschulleiter von sechs Schulen in Reichenbach im Kandertal vom Kindergarten bis zur Oberstufe. Der 51-Jährige hat damals statt eines dicken schriftlichen Reglements ein Motto eingeführt, das für alle gilt. Man sieht in der Eingangshalle das Bild einer kleinen Pflanze, die umgetopft wird, dazu der Slogan: «Mir häbe Sorg!»

«Das Fussballreglement hat 138 Seiten – trotzdem kann man sich uneins sein, welche Entscheidung gerecht ist.»

Bilanz ziehen

Bis 2018 war Bruno Grossen Instruktor, Ausbildner und Coach von Schiedsrichtern, hatte mit 26 Jahren gestartet und die letzten sechs Jahre zusätzlich als Ausbildungschef der Spitzenschiedsrichter beim Schweizerischen Fussballverband SFV gearbeitet. Ebenso lang wirkte er als Lehrer viel Gutes: «20 Jahre stand ich vor Schülerinnen und Schülern der Mittel- und Oberstufe, unterrichtete zahlreiche Klassen des 10. Schuljahrs und leitete zuletzt die Brückenangebote am Berufsbildungszentrum IDM in Spiez. Dieses bietet unter anderem ein Berufsvorbereitungsjahr für Jugendliche ohne Lehrstelle an», erzählt der leidenschaftliche Pädagoge. 2012 verfasste er eine Projektarbeit zum Thema «Verhindern von Schulabbrüchen». Seine Erfahrungen als Lehrer, Fussballspieler, Schiedsrichter, Coach, Ehemann und Vater von drei Mädchen (10, 13, 16) lassen ihn nun neue Wege beschreiten.

Miteinander reden

Bruno Grossen kommt auf das Bild im Foyer zurück: «Wir betrachten den Menschen als zartes Pflänzchen. Kinder werden ständig wieder 'umgetopft', von Lehrer zu Lehrer, von Klasse zu Klasse, oft auch innerhalb der Familie. Die Kindheit ist eine sensible Phase. Entsprechend sorgfältig wollen wir miteinander umgehen.» Er bemerkt: «Unsere Schule bleibt dennoch nicht von Problemen verschont, ich denke an Mobbing oder Vandalismus.» In solchen Fällen würden die Pädagogen mit den Kindern das Gespräch suchen, ihnen die Folgen aufzeigen und den Leitsatz in Erinnerung rufen: «Mir häbe Sorg!»

«Wir betrachten den Menschen als zartes Pflänzchen. Kinder werden ständig wieder 'umgetopft', von Lehrer zu Lehrer, von Klasse zu Klasse, oft auch innerhalb der Familie.»

Der engagierte Coach und Schulleiter bekräftigt: «Durch Strafe zum Gehorsam zu erziehen, das habe ich auf dem Fussballplatz erlebt, das ist passé.» Lieber folge er seinem inneren Schiedsrichter, dem ein respektvoller Umgang wichtig sei und der in entsprechenden Situationen wertschätzend reagieren könne. Grossen fügt an: «Wenn es Sinn macht, scheue ich nicht davor zurück, eine Antiaggressionstherapie zu verfügen.

Missetäter am freien Nachmittag zu Hilfseinsätzen mit dem Schulwart zu verdonnern, ist für uns keine Option.» Auch als eine Lehrperson ihn bat, das Kollegium vor den Eltern zu schützen, konterte er: «Wir brauchen uns nicht vor ihnen zu schützen, sondern sollten sie ins Boot holen. Auch Eltern wollen, dass es ihren Kindern gutgeht und sie ihr Potenzial ausschöpfen können.»

Einander respektieren

Gegenseitiger Respekt sei ein Kernthema der Schule. Bruno Grossen plädiert: «Es gilt, sich zurückzubesinnen auf das Wesentliche im Umgang miteinander. Wir müssen üben, anständig miteinander umzugehen, und das Zusammenleben trainieren.» Es gebe viele Schulen, die von ihm wissen wollten, wie er das umsetze. Seine Erfahrung: «Bei Schwierigkeiten und Unsicherheiten führen die meisten ein strenge(re)s Reglement ein. Auf einmal merken sie, dass es nicht zielführend ist, ständig nur zu reagieren.» Die Schule habe ein Stück weit ihre Autorität verloren. Es sei ein Problem des Zeitgeistes, dass sie immer mehr mit Erwartungen und Forderungen konfrontiert werde.

«Es gilt, sich zurückzubesinnen auf das Wesentliche im Umgang miteinander. Wir müssen üben, anständig miteinander umzugehen, und das Zusammenleben trainieren.»

Grossen fügt an: «Viele Leute meinen, sie wüssten es besser und hinterfragen die Dinge ständig.» Das Motto «Mir häbe Sorg!» sei ein Zeichen der neuen Autorität, die in Schulen aufkeime. Grundlegende Werte zu etablieren, brauche Zeit, Geduld und Ressourcen. Ein Ansatz könne sein, sich selbt Fehler ein- und sie anderen zuzugestehen. Grossen erklärt: «Ich wünsche mir, dass wir die Fehlerhaftigkeit von Menschen akzeptieren. Auch ich entscheide nicht immer richtig. Menschen machen Fehler. Das lässt sich nicht vermeiden und könnte einfach wieder akzeptiert werden.»

Barmherzig(er) miteinander umzugehen – das ist auch ein grosses Thema in der Bibel. Viele Menschen betrachten die 10 Gebote als Regelwerk. Abschliessend wollten wir von Bruno Grossen wissen, wie er «Gottes Reglement» für die Menschen beurteilt: «Der Bibel gegenüber bin ich ambivalent. Sie ist ein dickes Buch, kann sehr unterschiedlich ausgelegt werden, zeigt aber auch vieles vorbildlich auf. Würden die Menschen die 10 Gebote konsequent leben, hätten wir weniger Probleme in der Welt. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke… unser Motto 'Mir häbe Sorg!' könnte durchaus in der Bibel stehen.»

Zur Person:

Was bringt Sie zum Lachen?
Emil auf der Polizeihauptwache.

Was würde uns an Ihnen überraschen?
Mein exzessiver Jubel, wenn die Schweizer Nationalmannschaft ein Tor schiesst.

Was möchten Sie gern erleben?
Die Abschaffung von Noten und Selektionen in der Schule.

Wann geraten Sie in einen Flow?
Beim Stauen von Bächen und beim Feuermachen irgendwo in der Natur.

Sehen Sie sich den Hope-Talk mit Bruno Grossen an:
 

Autor: Mirjam Fisch-Köhler / Florian Wüthrich
Quelle: Hope Regiozeitungen