«Fakt ist, dass die Kirche einen Missionsauftrag hat»

Thomas de Maizière
Thomas de Maizière ist Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages im Juni. Für ihn ist klar: Der Glaube braucht Gemeinschaft. Warum aus seiner Sicht die Prägekraft der Kirche noch nicht am Ende ist, erklärt er im Interview.

Das Motto des diesjährigen Kirchentags lautet: «Jetzt ist die Zeit». Wofür genau ist die Zeit, Herr de Maizière?
Thomas de Maizière:
Als wir uns für ­diese Losung entschieden haben, gab es Kritiker, die diesen Vers zu banal und zu nichtssagend fanden. Trotzdem fiel die Entscheidung mit knapper Mehrheit für diesen Vers. Mittlerweile sind wir alle einig, dass wir in besonderen Zeiten leben. Der Kanzler nennt das Zeitenwende. Das betrifft weit mehr als die Bundeswehr. Die Losung soll das aufgreifen. Wir wollen fragen, was das für Zeiten sind und inwiefern diese Zeiten besonders sind – vor allem mit Blick auf den Krieg, auf Frieden, auf Schöpfung, auf Gerechtigkeit und Demokratie. Wir wollen den Versuch einer ­Zeitendeutung unternehmen.

Wer macht diese Zeitendeutung? Der Kirchentag oder die Besucher?
Wir machen das alle gemeinsam. Der Kirchentag ist eine Plattform für Dialog mit einer besonderen Diskussionskultur. Das haben frühere Kirchentage bewiesen.

Inwiefern besonders?
Obwohl viele Menschen unterschiedlicher Auffassungen vor Ort sind, herrscht eine Diskussionskultur mit Niveau, gutem Stil, Respekt und Wertschätzung vor. Das gibt es in Deutschland mit dieser Grössenordnung kein zweites Mal. Diese Zeitendeutung auf dem Kirchentag ist aus meiner Sicht ein Gemeinschaftswerk vieler zehntausender Menschen.

Schaut man sich die Kirchentags­losung im Zusammenhang im ­Markus-Evangelium an, ist dort von Busse und Umkehr die Rede. Sind ­diese Themen zu unattraktiv für den Kirchentag?
Nein, das nicht. Ich selbst habe übrigens auch schon über Busse gepredigt. Vielmehr hat die Verkürzung praktische Gründe. Zum einen muss so eine Losung kurz und einprägsam sein. Zum anderen ist dadurch ein umfassender Blick auf die Zeit möglich, weil wir eben nicht vorgeben, für was alles die Zeit ist.

Aber Sie haben in Ihrer Frage auch einen Punkt. Denn wir wollen nicht mit dem moralischen Zeigefinger auf andere zeigen. Vielmehr müssen wir uns fragen, was denn jetzt unsere Aufgabe in der Gesellschaft über Singen und Beten hinaus ist. Und dafür ist der zweite Teil des Verses natürlich ein weiterführender Hinweis.

Was sind diese Aufgaben, die über Singen und Beten hinausgehen?
Also, Singen und Beten sind etwas sehr Wichtiges. Gerade das gemeinsame Singen zeichnet auch den Kirchentag aus. Ich meine damit aber, dass es manchmal die Tendenz gibt, von der Kanzel herab diejenigen, die sich in den Mühlen des Alltages zu bewegen haben, auch in der Politik, mit moralischen Ansprüchen zu beschweren. «Ora et labora» ist wichtig, also beten und handeln.

Sollte Kirche also keine moralischen Linien mehr vorgeben?
Natürlich ist es Aufgabe von Kirche, eine moralische Messlatte zu haben – aber nicht von oben herab. Zumal die Gesellschaft beispielsweise im vergangenen Jahr sehr viel eigene Beiträge geleistet hat. Hunderttausende Flüchtlinge wurden ­sogar privat aufgenommen. Menschen haben Strom gespart, und viele Dinge mehr. Aus den Beiträgen vieler Einzelner ist also eine Veränderung entstanden. Ich glaube, das ist eine Botschaft, die vom Kirchentag ausgehen kann.

In vielen Programmpunkten beim Kirchentag geht es um den Krieg in der Ukraine. Ist jetzt die Zeit für Krieg und Waffen oder für Frieden und Diplomatie?
Fern von meiner politischen Überzeugung ist es aus meiner persönlichen Sicht ethisch nicht zwingend geboten, aber mindestens ethisch erlaubt, die Ukraine auch mit schweren Waffen zu unterstützen. Jeder, der das ablehnt, muss sich auch der Folgen bewusst sein. Denn Unterlassen hat auch eine Wirkung. Aber ich weiss ebenso, dass ich mit dieser Position den Vorwurf akzeptieren muss, dass das Liefern von Waffen zu mehr Toten führt. Das ist eine schwierige Abwägung, die man im guten Sinne mit schwerem Herzen treffen muss. 

Sind Waffenlieferungen auch aus christlicher Sicht zu rechtfertigen?
Ja, sie sind christlich zu rechtfertigen. Aber dennoch macht man sich schuldig. In dieser Frage gibt es keine Entscheidung, die nicht in Schuld führt. Als ehemaliger Sicherheitspolitiker und auch als Christ würde ich aber soweit gehen und sagen, dass Waffenlieferungen notwendig sind.

Nun können ja weder die Kirchen noch der Kirchentag Waffen an die Ukraine liefern. Worin sehen Sie die Aufgabe des Kirchentags bezüglich des Ukraine-Krieges?
Der Kirchentag kann einen Debattenraum für diese Fragen öffnen. Beide Positionen in Bezug auf Waffenlieferungen lassen sich gut begründen und werden nicht leichten Herzens getroffen. Ausserhalb des Kirchentags sehe ich keinen anderen Ort, wo man mit gutem Niveau und ernsthaft diese Positionen so diskutieren kann. Talkshows sind dafür jedenfalls nicht ­geeignet.

Sie waren selbst Verteidigungsminister (2011-2013) – allerdings in einer Zeit, in der in Europa Frieden herrschte. Sind Sie froh, in dieser Zeit statt heute die Verantwortung getragen zu haben?
Nein. Ich habe ja dennoch Verantwortung für unsere Soldaten im Ausland getragen. Und ich stand vor den Särgen der gefallenen Soldaten und habe mit den Angehörigen gesprochen. Als Verteidigungs- oder Innenminister trägt man eine besondere Verantwortung. Für die Politiker, die jetzt in Verantwortung sind, wünsche ich mir allein aus diesem Grund schon Respekt und Wertschätzung – unabhängig der Frage, ob man inhaltlich einer Meinung ist. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass man als Minister Entscheidungen wie Auslandseinsätze nicht einfach wegsteckt. Ein Bundestagsbeschluss, Soldaten ins Ausland zu schicken, ist das eine. Die politische Verantwortung dafür zu haben, dass möglichst wenige Soldaten fallen, oder den Angehörigen beizustehen, das ist etwas anderes.

Lassen Sie uns nochmal auf den Kirchentag zu sprechen kommen. Die beiden grossen Kirchen verlieren in Rekordzeit ihre Mitglieder. Der Katholikentag im vergangenen Jahr war so schlecht besucht, wie nie zuvor. Droht ein ähnliches Szenario in Nürnberg?
Die genaue Teilnehmerzahl ist zum jetzigen Zeitpunkt natürlich noch nicht abzuschätzen. Wir haben aber bereits mehr als 2'000 angemeldete Bläser – und das ist ja bei einem Kirchentag schon die halbe Miete. (lacht) Aber im Ernst: Ich glaube, dass viele Menschen vielmehr Schwierigkeiten mit der Institution Kirche haben, nicht so sehr mit dem Glauben. Die Frage ist, ob das nicht eine Gruppe ist, die besonders für den Kirchentag ansprechbar ist. Unser Ziel muss es daher auch sein, um Menschen zu werben, die aus der Kirche ausgetreten sind, aber nicht mit ihrem Gott gebrochen haben.

Was bedeutet der Mitgliederschwund der Kirchen für unsere Gesellschaft?
Das wird man erst in den nächsten Jahren wirklich sehen. Fakt ist, dass unser ganzer Alltag und unser ganzes Leben nach wie vor christlich geprägt sind. Der Lebensrhythmus des Jahres richtet sich nach dem kirchlichen Kalender und Kirchen sind die prägendsten und sichtbarsten Gebäude unseres Landes. Deswegen denke ich, dass die Substanz unserer christlichen Prägung viel tiefer geht und auch noch intakter ist, als die Austrittszahlen zeigen. Aber das muss nicht so bleiben.

Was muss die Kirche machen, damit das so bleibt?
Die Kirche muss Antworten auf Sinnfragen geben, die Gehör finden. Und die Kirchen müssen Menschen ansprechen, die keinen Bezug zu ihr haben, ohne ihre Kernklientel zu vernachlässigen. Die Frage ist: Wie können Menschen angesprochen werden, die institutionell nicht mehr erreicht werden können? Das geht übrigens Parteien oder Medien nicht anders. Daher würde ich eher sagen, dass wir eher in einer Institutions- und keiner Sinnkrise sind.

Haben Sie eine Idee, wie das gelingen kann?
Leider habe ich kein Patenrezept. Es gibt in der Welt so viele Unsicherheiten über die Entwicklung der Zukunft und Sehnsüchte, da müsste es doch eigentlich offene Ohren und Herzen für kirchliche Botschaften geben. Schliesslich haben wir die beste Botschaft der Welt. Die muss allerdings in neuer Form und klug an die Frau und an den Mann gebracht werden, anstatt nur den Bedeutungsverlust der ­Institutionen zu beklagen.

Also machen die Kirchen schlechte Werbung für ihre Inhalte?
Nein, es geht mehr um einen generellen Bedeutungsverlust von Institutionen. Davon sind eben auch die Kirchen betroffen. Aber sie brauchen einen anderen Blick. Ich erkenne da eine gewisse Mentalität. Die Kirchen beklagen den Rückgang der Mitglieder, und konzentrieren sich auf die, die bleiben. Ich halte das für falsch. Vielmehr muss sie sich über die, die bleiben, freuen, und um die, die gegangen sind, werben. Und sie muss natürlich auch die im Blick behalten, die nichts mit Glauben zu tun haben.

Der Zeit-Journalist Alexander Krex fragte in einem Artikel, warum ihn die Kirche nicht missioniert. Sie sprachen gerade von «werben». Wie kann Mission im 21. Jahrhundert aussehen?
Fakt ist, dass die Kirche einen Missionsauftrag hat. Was denn sonst? Für etwas zu stehen und die Menschen zum Mitmachen zu bewegen, ist Kernauftrag von Kirche. Natürlich ist der Begriff historisch belastet und Mission hat viel Missbrauch erfahren. Aber ein fröhlicher, klarer, werbender Auftritt der Kirche, den finde ich genau richtig und notwendig.

Sie sind Mitglied in der evangelischen Kirche. Haben Sie schon mal mit Austrittsgedanken gespielt? Anders gefragt: Was hält Sie in der Kirche?
Mein Glaube. Die Gemeinschaft des Glaubens braucht eine grosse Institution wie die Kirche. Als Christ muss man auch wirksam werden und das geht am besten gemeinsam. Ich glaube nicht, dass die Welt besser wird, wenn ich mir meinen Glauben privat zurechtbastele. Ein Abendmahl ist ein gemeinsames Mahl. Ein gemeinschaftliches Lied ist ein gemeinsames Erlebnis. Die Institution Kirche mit all ihren diakonischen und sonstigen Angeboten ist für mich ein grosser Schatz. Deswegen werde ich nicht austreten.

Haben Sie persönlich christliche Vorbilder?
Ich finde, Paulus ist eine sehr interessante Figur. Er war nach einem zunächst ganz anderen Weg ein kämpferischer und fröhlicher Christ, der sich für seinen Glauben eingesetzt hat. Als zweites Vorbild würde ich Dietrich Bonhoeffer nennen. Für ihn bestand der Glaube nicht nur aus Glauben, sondern auch aus Hoffen und Handeln – und das in schwierigsten Zeiten.

Wenn Sie im Juli auf den Kirchentag zurückblicken: Was wünschen Sie sich?
Ich wünsche mir, dass die Menschen den Kirchentag als Schatz wahrgenommen haben, den es sonst nicht gibt. Und dass die besondere Atmosphäre aus Singen, Beten und Diskutieren gelingt.

Dieser Artikel erschien zuerst auf PRO Medienmagazin

Zum Thema:
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Autor: Martin Schlorke
Quelle: PRO Medienmagazin

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