Sofya: Wenn die Erde bebt – und Christen helfen

Sofya, Direktorin von Kardelen
Monate nach dem Erdbeben in der Türkei ist immer noch vieles nicht wieder gut. Aber es gibt Menschen, die anpacken. Zum Beispiel Sofya. Uwe Heimowski berichtet.

Sofya strahlt. Sie und ihre Kollegin stehen links und rechts neben einem Stuhl. Sie haben sich für ein Foto aufgestellt. Die junge Frau zwischen ihnen, sie heisst Jülide, trägt eine Prothese. Der linke Unterschenkel ist amputiert. Sie hat ihn bei dem verheerenden Erdbeben verloren, das Anfang des Jahres weit mehr als 50'000 Menschenleben allein in der Türkei gefordert hat.

Die Opfer in Syrien sind ungezählt. Rund 800 Menschen haben Gliedmassen verloren, Tendenz steigend. Jülide ist eine von ihnen. In einem halben Jahr hätte sie ihren Bachelor abgeschlossen, dann brach ihre Welt buchstäblich in sich zusammen. Verwandte starben, Jülide wurde aus den Trümmern geborgen. Sie erwachte im Krankenhaus – ohne ihr Bein. Nach Tagen der Verzweiflung wurde sie von Mitarbeitern von «Kardelen» angesprochen. 

Kardelen ist eine christliche Organisation, die seit Jahren Programme für Menschen mit Behinderungen auf die Beine stellt. Sofya ist die Direktorin von Kardelen. Anfang dreissig, strahlende braune Augen. Eine Macherin. Eine, die zupackt. «Ich habe mit neun Monaten laufen gelernt», scherzt sie, «ich dachte: Let's go, there is a job to be done» (dt. Los geht's, es gibt was zu tun).

Schocknachrichten per SMS

Sofya, die in Ankara lebt und arbeitet, stammt aus der Erdbeben-Region um Antakya an der syrischen Grenze. Als sie am Morgen des Bebens auf ihr Handy schaut, erschrickt sie über die Flut von SMS und WhatsApp-Nachrichten. Das dreistöckige Haus ihres älteren Bruders ist zusammengestürzt. Der Kleiderschrank krachte auf sein Bett – doch wie durch ein Wunder war er kurz vorher aufgewacht.

Die Familie schaffte es, aus dem Haus zu rennen, bevor die Schuttberge sie begraben konnten. Sofya hilft, Nothilfe zu organisieren. Ihr Vater ist einer der Ältesten einer örtlichen Gemeinde. Deren Kirchengebäude blieb weitgehend unbeschädigt. Sie nehmen Menschen auf, helfen, wo sie können. 

Krankenkasse übernimmt 30 Prozent der Prothesekosten

Staatliche Hilfskräfte treffen erst nach Tagen ein. Langsam wird das Ausmass der Tragödie sichtbar. Tote und Verletzte werden geborgen, die gesamte Infrastruktur ist zusammengebrochen. Internationale Hilfe läuft an, Jülide etwa wird von einem moldawischen Rettungsteam geborgen. Sie wird in ein Krankenhaus nach Ankara gebracht und sofort operiert.

Doch ihre Aussichten sind trübe.

Eine prothetische Versorgung ist teuer, die Krankenkasse übernimmt nur 30 Prozent der Kosten – sofern die Menschen überhaupt krankenversichert sind. Doch Jülide trifft auf Mitarbeitende von Kardelen.

Sofya, konfrontiert mit der Not von Jüliken – und den 300 anderen, die Gliedmassen verloren haben und in Ankara medizinisch versorgt werden –, schreibt ein Konzept. Sie hat einige Jahre bei einer internationalen NGO gearbeitet und aktiviert ihre Kontakte. Zügig reicht sie Projektskizzen ein und bekommt tatsächlich den Zuschlag einer Hilfsorganisation. In Zusammenarbeit mit einer orthopädischen Fachklinik werden Menschen mit Prothesen versorgt. 

Auch Jülide gehört dazu. Die junge Frau lässt sich nur zögernd darauf ein. Das schwere Trauma des Erdbebens hat nicht nur ihren Körper angegriffen. Kardelen stellt daraufhin Trauma-Therapeuten ein. «Wir müssen den Menschen ganzheitlich helfen. Sie brauchen Lebensmut. Nicht nur ihre Körper sind beschädigt, sondern ihr Grundvertrauen ist im wahrsten Sinne des Wortes erschüttert.»

«Geht zu den Christen»

Die Direktorin von Kardelen hat den Lebensmut in die Wiege gelegt bekommen. Ihre Familie gehört seit Generationen zur griechisch-orthodoxen Kirche, einer der christlichen Minderheiten, die traditionell in der Türkei beheimatet sind. Der Glaube gehört hier auch zur ethnischen Identität. Ihr Vater beginnt, die Bibel zu lesen und findet darüber zu Jesus. Er gründet mit anderen eine protestantische Gemeinde.

Sofya wächst in diesem Umfeld auf, mit 19 Jahren lässt sie sich taufen. Nach einer Ausbildung zur Kauffrau beginnt sie ihren Job bei einer amerikanischen NGO, die vor allem Nothilfe leistet. Als Christin und Praktikerin findet sie hier ihre Berufung. Als die NGO in eine wirtschaftliche Schieflage gerät, wechselt sie 2020 zu Kardelen. Mit einem deutschen Partner baut sie in Ankara ein Begegnungszentrum für Menschen mit geistigen oder Mehrfach-Behinderungen auf, gefördert vom Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Diese Kanäle nutzt sie nun, um das Prothesen-Projekt ins Leben zu rufen und eine physiotherapeutische Nachsorge aufzubauen. Sie strahlt und wendet sich der jungen Frau mit der Prothese zu: «Wir können Menschen wie Jülide wieder Hoffnung geben. Und die Menschen in Antakya sagen: Wenn ihr Hilfe sucht, geht zu den Christen.»

Dieser Artikel erschien zuerst auf PRO Medienmagazin.

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Autor: Uwe Heimowski
Quelle: PRO Medienmagazin

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