«Ein Lied, das es wagt, Trost zu schenken»
Judy Bailey, die Welt wird gerade durchgerüttelt, wie wirkt sich das auf Ihre Lyrik und Auftritte aus?
Judy Bailey: Es ist interessant, wie so viel von dem Inhalt von dem, was wir singen und sagen, relevanter scheint als je. Die Lieder, die Worte, die Werte über das, was wichtig ist, was uns Halt gibt – das alles scheint, als ob es genau für eine Zeit wie jetzt geschrieben wurde. Unter anderem haben wir ein Lieder-Lese-Programm: «Das Leben ist nicht schwarz–weiss». Damit bin ich im Duo mit meinem Mann Patrick unterwegs. Wir haben persönlichste Geschichten und Lieder im Gepäck, die wir mit tief verwurzelten Themen wie Rassismus, Nationalsozialismus, Schwarz–weiss- Denken, Wert des Menschen – und das alles irgendwie verwoben mit dem grossen Geheimnis Gottes – zu den Menschen bringen. Ziemlich zum Ende des Abends singen wir immer ein Friedenslied, das für unser Dorf, aber auch unsere Welt entstanden ist:
Es ist ziemlich klar, wir suchen alle etwas
ja, wir tragen unsere Sehnsucht tief in uns
In unserer Welt tut vieles weh
Was wir brauchen mehr denn je
Frieden, Frieden»
Dieses Lied, diese Geschichten zwischen Schmerz und Hoffnung, resonieren mit dem Publikum und ihren Geschichten und Erlebnissen. Und noch deutlicher als je zuvor spüren wir, dass viele an den Abenden ähnlich empfinden. Am Ende liegt immer wieder eine ganz besondere Atmosphäre im Raum...
Können Sie ein, zwei Songs vorstellen, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden?
Gerne. Wir bringen immer mehr Lieder auch online heraus und den Weg auf ein Album finden sie vielleicht erst später. Ein Lied, das mir viel bedeutet, ist «Stay Open». Es ist eigentlich ein Selbstgespräch mit dem eigenen Herzen und bittet, offen zu bleiben, auch wenn es nicht einfach ist. Es sagt: «Schalte nicht ab. Bitte werde nicht hart! Trotz allem und auch wenn es schmerzt, höre nicht auf zu fühlen, zu beten, zu hoffen.» Weil wir diese Kraft brauchen für den Frieden, für Menschlichkeit an allen Ecken und Enden!
Und dann ganz aktuell ist da «Need a miracle». Der Song ist ein Weihnachtslied, das ich mit unserem jüngsten Sohn geschrieben habe. Er setzte sich ans Klavier, spielte ein paar Akkorde und daraus entwickelte sich eine Melodie. Voller Sehnsucht und Melancholie und doch auch weihnachtlich und hoffnungsreich. Das waren genau die Emotionen, die wir spürten und denen wir Worte schenken wollten. Mitten in die Turbulenzen dieser Zeit. Es spricht in diese Tage hinein, ohne sie zu verharmlosen ... und trotz allem wagt es immer noch, Trost zu schenken! Wir schrieben Worte, die uns zu Weihnachten in den Sinn kamen, aber auch Worte, die die Emotionen, die wir gerade durchleben, zum Ausdruck brachten. Denn es sind schwierige Monate und Momente und nein, zu Weihnachten wird nicht wieder alles gut sein – das spürten wir, während wir das Lied komponieren. Sehnsucht kennt mehr als helle Lichter und buntes Papier. Ja, es ist Weihnachten. Ja, das Friedensfest steht vor er Tür. Aber der Friede scheint weit entfernt. – Der Wunsch, der uns ergriff, war die Hoffnung auf ein Wunder. Und daraus wurde «Need a miracle».
Für die Aufnahme lud ich einige junge Sängerinnen ein, mit in das Hoffnungslied einzustimmen – und keine sagte «Nein». Für das Video konnten wir einen jungen Syrer gewinnen, den wir kurz vor Weihnachten 2014 getroffen hatten und der in Alpens Containerunterkünften (also in unserem Dorf Alpen am Niederrhein) hinter der Turnhalle untergekommen war. Es war ein Klopfen an die Tür, ein erstes «Hallo», so erzählt Ahmed heute, das sein Leben verändert hat. Nach Monaten im Container und keinen nachbarschaftlichen Kontakten war dies der Anfang, Menschen aus Alpen kennenzulernen, deutsch zu sprechen und schliesslich eine Ausbildung zum Fotograf zu machen. Für dieses Musikvideo kam er extra wieder zurück zu unserem Dorf und filmte das Weihnachtskunstwerk. Es war eine freudige Wiederbegegnung!
Das Besondere an «Need a miracle» ist die Vielstimmigkeit, die Persönlichkeiten, wie jede Sängerin einen Teil ihrer Seele in das Lied legt. Sängerinnen, die alle meine Töchter sein könnten. Wir haben selber drei Söhne – und auch diese haben, gar nicht selbstverständlich, mitgewirkt: Jacob, der jüngste, beim Komponieren und Schreiben, Levi, der älteste, bei Video und Onlineclips und Noah, der als Noah Tendai ebenfalls als RAP-Künstler eigene Stücke veröffentlicht, mit einem ganz besonderen Überraschungsbeitrag im Song. Ich hoffe sehr, dass das Lied Trost und Zuversicht schenkt, in Zeiten, die uns gerade sehr zusetzen.
Welche Themen bewegen Sie generell – und weshalb?
Der Wert des Menschen. Das Geheimnis Gott. Und wie wir gut und gerecht zusammen leben können auf dieser, unserer Erde.
Sie versprühen karibische Lebensfreude, gibt es ein besonderes Erlebnis, dass jemand mit einem Ihrer Songs erlebte?
Wir machen Musik seit über 30 Jahren und es ist immer wieder bewegend, dass es ganz viele Geschichten gibt von Leuten, die sagen, wie unsere Lieder ihnen geholfen haben. Sie haben in den verschiedensten Situationen zum Beispiel ein Lied gehört, als sie in den OP gerollt wurden, oder die Musik als treue Begleiterin während Trauerzeiten in ihrem Ohr hatten. Es gibt immer wieder auch Leute, die uns erzählen, sie seien ziemlich traurig oder lustlos zu einem Konzert gekommen, die dann aber geflasht waren und freier, aufgemunterter und hoffnungsvoller nach Hause gegangen sind. Ich denke auch an eine Jugendliche, die mir nach einem Konzert ein kleines Stück Papier in meine Hand gedrückt hat. Auf dem Zettel stand: «Niemand glaubt mir, aber deine Lieder haben mein Leben gerettet.»
Welche Feedbacks nach einem Auftritt bewegen Sie?
Wenn Leute sagen, ich gehe anders raus als ich reingekommen bin. Die Dinge sagen wie: «Ich hatte einen Aha-Effekt. Das Konzert hat mich wirklich zum Nachdenken gebracht und mir noch einmal eine ganz andere Perspektive geschenkt. Ich habe was gelernt. Ich will anders leben. Vielleicht ist Gott doch da. Ich habe das Gefühl, Gott war mit uns an diesem Abend...»
Was ist Ihr Herzensanliegen?
Das wir offen bleiben können für Gott. Und dass wir offen bleiben für Menschen, füreinander. Wir dürfen es uns nicht zu einfach machen. Das Leben ist nicht schwarz-weiß. Und genau deshalb liebe ich dieses Leben!
Sehen Sie sich das Musikvideo von Judy Bailey an:
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