Manuel Schmid reagiert auf Kritik
Paul Bruderers «Zwischenruf» im IDEA Schweiz-Magazin (und der identische Beitrag auf Livenet) reagiert auf eine Kritik, die ich vor Kurzem an einer Predigt von Leo Bigger geübt habe. Die Predigt will Gottes Einstellung zu queeren Menschen ergründen. Ich habe ihr vorgeworfen, biblizistisch zu argumentieren und keine andere Deutung neben sich zuzulassen, die Polarisierung innerhalb der evangelikalen Christenheit zu befördern und die Lebensrealität queerer Menschen nicht ernst genug zu nehmen.
Unterstellungen und implizite Übereinstimmungen
Bruderer gelingt das Kunststück, die Berechtigung meiner Kritikpunkte an mehreren Stellen anzuzweifeln – er spricht von meinem «scheinbar» begründeten Widerspruch, von meiner «scheinbar» fundierten Argumentation und vom «angeblichen» wissenschaftlichen Konsens, auf den ich mich berufe –, ohne auf irgendeines meiner Argumente einzugehen und deren Stichhaltigkeit zu widerlegen.
Ironischerweise decken sich seine anschliessenden Tipps für Pastoren, welche über sexualethische Themen predigen wollen, erstaunlich weitgehend mit dem, was mir an der besagten Predigt eben gefehlt hat: Einfühlungsvermögen, Differenzierungsbereitschaft und gewissenhafte Auseinandersetzung mit den strittigen Fragen. Gibt Paul Bruderer meiner Kritik also implizit recht, ohne offen dazu stehen zu können, weil die kritisierte Predigt doch die seines Erachtens «richtige», nämlich queer-kritische, Position einnimmt?
Es geht mir um die Hausaufgaben
Auf jeden Fall verkennt er völlig, dass ich in meiner Predigtkritik noch nicht einmal die konservative Position an sich anprangere, sondern die m.E. schlecht informierte und hemdsärmelige Art und Weise, mit der sie vertreten wird. Das aber sollte auch nach Massgabe des «Zwischenrufes» von Bruderer nicht nur erlaubt, sondern um der Ernsthaftigkeit des Themas und seiner pastoralen Konsequenzen Willen sogar geboten sein. Gewiss lässt mein Text erkennen, dass ich die im evangelikalen Raum noch immer verbreitete Verurteilung von Homosexualität (und anderen Formen der Queerness) im Namen der Bibel schon lange nicht mehr teile – aber es ist nicht diese fehlende Übereinstimmung mit meiner eigenen Haltung, die ich der Predigt zum Vorwurf mache.
Meine Kritik als «typisches Beispiel» zu nehmen für eine veränderte ideologische Grosswetterlage, welche bibeltreuen Pastoren den Mund verbietet und die christliche Lehre im Namen einer Deutungshoheit der «Betroffenen» niederhält, verfehlt die Stossrichtung meines Textes völlig.
Die von Bruderer geäusserte Sorge, dass Pastoren durch meinen Widerspruch den Mut verlieren könnten, «biblisch» über sexualethische Themen zu predigen, hat ausserdem etwas Paternalistisches. Er meint, den eingeschüchterten Pastoren zur Hilfe eilen zu müssen, weil sie sich sonst nicht mehr auf die Kanzel trauen. Ich habe über 15 Jahre hinweg Pastoren und Pastorinnen (die gibt’s übrigens auch noch) ausgebildet und halte diese Menschen für eigenständig und eigenwillig genug, sich eine Überzeugung zu bilden und diese auch zu vertreten.
Wenn mein Einspruch an die besagte Predigt dazu beiträgt, dass Pastor:innen sich gewissenhafter auf sexualethische Themen vorbereiten und die Perspektiven von «Betroffenen» berücksichtigen, dann müsste das eigentlich auch im Sinne Bruderers sein. Das Beschwören einer wertevergessenen, christentumskritischen Kultur ist auch eine viel zu einfache Ausrede für Christen und Christinnen, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben und sich dann auf die Position einer verfolgten Minderheit zurückziehen, weil die «Welt» ihre sexualethischen (Vor-)Urteile nicht mehr mitträgt.
Was bedeutet kritische Loyalität?
Grundsätzlich ist aber vor allem die Unterstellung einer «ideologischen Distanz» zum ICF eine Verzerrung dessen, was ich in meinem Text ausdrücklich betone: Ich fühle mich dem ICF nach wie vor verbunden, pflege viele freundschaftliche Kontakte zu Mitarbeitenden im ICF Basel, spende dort regelmässig Geld und predige immer wieder in ICF Gottesdiensten. Wenn ich dem ICF Zürich «inzwischen aus der Ferne» zurufe, dann meine ich damit vor allem, dass ich keine offiziellen Berührungspunkte mit der Zürcher «Mutterkirche» (und der dortigen Movement-Leitung) mehr habe, seit ich nicht mehr als Pastor im ICF arbeite.
Mein Text verurteilt aber weder das ICF Movement noch ICF Zürich oder Leo Bigger, sondern er übt begründete Kritik an einer ganz bestimmten Predigt. Diese Kritik ist nicht als öffentliche Austrittserklärung zu verstehen (das wäre auch nicht möglich, ICF kennt gar keine formalen Mitglieder…), sondern vielmehr im Sinne einer kritischen Loyalität: Ich übe Kritik, weil mir ICF am Herzen liegt und weil ich weiss, dass es die vielen engagierten und grossherzigen Menschen dort tatsächlich besser machen können, als es die kritisierte Predigt zum Ausdruck bringt – und ich übe Kritik, damit ich mich dem ICF weiterhin verbunden fühlen kann und damit ich gerade nicht alle Brücken dorthin abbrennen muss.
Und noch ein selbstkritisches Wort zum Schluss: Ich bereue zwar nicht, mit meiner Predigtkritik an die Öffentlichkeit getreten zu sein – ich habe mich dazu innerlich gedrängt gefühlt und unzählige Rückmeldungen von Menschen bekommen, die dafür von Herzen dankbar sind –, aber ich befürchte, dass es auch meinem Text nicht gelungen ist, eine Diskussion über die angesprochenen Kritikpunkte anzuregen, anstatt bestehende Fronten zu erhärten. Ich habe in der Einleitung und zum Schluss des Textes bewusst betont, wie viele grossartige Menschen ich im ICF Movement kennen gelernt habe und wie wenig mir an einem pauschalen ICF- oder Leo-Bashing gelegen ist. Trotzdem wurde es von manchen offenbar so aufgefasst, und ich bin daran, in persönlichen Gesprächen nötige Klärungen zu suchen.
Zum Thema:
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