Happy Birthday, Gesangbuch!
Jahrelang lag es in jeder Kirche und Gemeinde: ein Gesangbuch. Optik und Titel unterschieden sich leicht: Was den Katholiken ihr «Gotteslob» war, nannte sich in der evangelischen Kirche «Gesangbuch» oder einfach EG und in den Freikirchen zum Beispiel «Feiern und Loben». Während die Freikirchen inzwischen zum grössten Teil auf elektronische Präsentation durch Beamer umgestellt und sich von ihren Liederbüchern verabschiedet haben, plant die Evangelische Kirche in Deutschland für 2028 eine Neuausgabe ihres Klassikers.
Heute hört es sich selbstverständlich bis überholt an, wenn im Gottesdienst zusammen Lied 358 gesungen wird, doch dieses gemeinsame Singen war eine Errungenschaft der Reformation und feiert 2024 das 500. Jubiläum. Das ist tatsächlich ein Grund zum Feiern.
Das «Achtliederbuch» und andere
Im Juli 1523 wurden zwei Augustinermönche in Brüssel hingerichtet. Sie hatten die Reformation unterstützt. Als Antwort darauf dichtete Martin Luther das Lied «Ein neues Lied wir heben an», das eigentlich gar nicht für Gottesdienste bestimmt war. Der Reformator fasste darin das Geschehen zusammen und erklärte, dass Gott der Reformation zum Sieg verhelfen würde. Dieses Lied wurde als Einzelblatt gedruckt und erfuhr eine weite Verbreitung. Lieder spielten in den protestantischen Gottesdiensten sowieso eine viel grössere Rolle als in der mittelalterlichen katholischen Kirche. Dort war das frühchristliche Singen auf liturgische Gesänge der Priester reduziert worden, auf die die Gemeinde mit kurzen Sätzen oder einzelnen Worten antworten durfte. Luther schwebte dagegen ein Gottesdienst vor, in dem alle gemeinsam Gott im Lied lobten. Dazu waren gemeinsame Texte und Melodien nötig. So entstanden Anfang 1524 parallel zueinander mehrere Liedersammlungen wie zum Beispiel das Nürnberger «Achtliederbuch», dessen erstes Lied «Nun freut euch, lieben Christen g’mein» noch heute mit der Nummer 341 im Kernteil des Gesangbuchs steht.
Anders als liturgische Gesänge fanden sich darin eingängige Melodien mit erklärenden und glaubensstärkenden Texten. Durch das Singen wurde die Gemeinde zur Akteurin im Gottesdienst und schaute nicht länger zu. «Der Gemeindegesang und die Beteiligung der Gemeinde im Gottesdienst ist Ausdruck der Tatsache, dass es keine Unterscheidung zwischen Klerus und Laien gibt, sondern dass alle getauften Christen an der Verkündigung teilnehmen», erklärt der Musikwissenschaftler Johannes Schilling. Der Liederschatz wuchs schnell und die Gesangbücher wurden umfangreicher. Auch dadurch breitete sich die Reformation aus. Bald zog die katholische Kirche nach und schon 1537 gab es auch ein erstes katholisches Gesangbuch, das teilweise aus nur leicht bearbeiteten Lutherliedern bestand.
Von nun an sang die Kirche. Und sie sang aus vielen verschiedenen Büchern. Im 17. Jahrhundert wurden die damals verbreitetsten Lieder – zum Beispiel von Johann Crüger und Paul Gerhardt – im wichtigsten Gesangbuch ihrer Zeit zusammengefasst, der «Praxis pietatis melica». Anfang des 18. Jahrhunderts enthielt das «Freylinghausen’sche Gesangbuch» aus Halle 683 Lieder, die auf 174 Melodien gesungen wurden – es gab damals die Tendenz, dass die Texte das Eigentliche wären. Am liebsten hätte man sie alle mit einer einzigen Melodie versehen, doch die Gemeinden widersetzten sich und die Zahl der Melodien nahm wieder zu. Als Nikolaus Graf von Zinzendorf, der Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine, in London an einem konfessionsübergreifenden Gesangbuch arbeitete, sammelte er dafür stattliche 2'168 Lieder.
Lieder, Texte und gelebter Glaube
So wuchs der gemeinsame Kanon immer wieder an und wurde parallel um Lieder reduziert, die nicht mehr in die Zeit passten. 1854 stellten die verschiedenen evangelischen Landeskirchen in Deutschland eine Kernliste mit 150 Titeln zusammen – einige werden bis heute gesungen. Ausgehend von Martin Luther und Paul Gerhardt ging es im Evangelischen Gesangbuch darum, singbare Lieder zusammenzustellen, deren Texte die Menschen erbauen, belehren und trösten sollten. Damals und bei den folgenden Ausgaben ging es laut evangelisch.de darum, «den alten, über Jahrhunderte gewachsenen Stamm an Liedern zu pflegen, zu beschneiden und regelmässig durch Neues zu ergänzen». Gebete bereicherten den Inhalt genauso wie Psalmlesungen, Bekenntnistexte wie das Glaubensbekenntnis oder der Kleine Katechismus. Kern blieben aber die Lieder, die durchs gemeinsame Singen im Gottesdienst und im Alltag Teil des Lebens von vielen Christen wurden.
Tatsächlich sind es einige hundert Lieder aus den Zehntausenden, die prägend waren und teilweise noch sind: Weihnachtslieder wie «Es ist ein Ros’ entsprungen», alte Lieder wie «O Haupt voll Blut und Wunden» oder modernere wie «Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer» oder «Von guten Mächten treu und still umgeben». Viele Gläubige haben mit einzelnen Liedern aus dem Gesangbuch ihre persönliche Geschichte und wissen noch genau, wo sie dies oder jenes Lied zum ersten Mal gehört haben und wie es ihnen damals ging. So begleiten diese Lieder uns durchs ganze Leben hindurch. Spannenderweise vergessen demente Menschen fast alles, aber «Lobet den Herren» singen sie oft ohne Texthänger mit.
Auf ein Neues!
Seit 1993 ist das jetzt aktuelle «Evangelische Gesangbuch» im Gebrauch. Mit seinen 535 Liedern im Kernteil ist es das umfangreichste bisher. 2017 entschieden sich die zuständigen Gremien der EKD für eine Neuauflage. Durch die Coronapandemie verzögerte sich der Arbeitsbeginn, doch 2021 kam die Gesangbuchkommission das erste Mal zusammen. Ihr Ziel ist es, bis voraussichtlich 2028 ein neues Gesangbuch herauszugeben, das für einige «fürchterlich» und für andere «wunderbar» sein wird. Denn es wird viele alte Lieder darin geben, etliche werden auch gestrichen werden, und es werden gleichzeitig neue Lieder und Texte dazukommen. Das neue Gesangbuch soll mindestens von guten Online-Suchmöglichkeiten begleitet werden, allerdings wird zurzeit nicht an eine rein digitale Ausgabe gedacht. Hier wiegt die Tradition schwer – und lässt an die letzte gedruckte Ausgabe des «Grossen Brockhaus» denken, der noch 2005 erschien, weil solch eine Enzyklopädie angeblich unersetzbar wäre. Die Wikipedia schien keine ernsthafte Konkurrenz zu sein, doch trotz ergänzender digitaler Medien floppte die gedruckte Enzyklopädie.
Ob in wenigen Jahren in jeder Kirche von Beamerfolien oder tatsächlich noch für Jahrzehnte aus einem neuen Gesangbuch gesungen wird, wird sich zeigen. Was unzweifelhaft scheint, ist, dass die Kirche weiterhin singt, denn dieser Ausdruck des eigenen Glaubens und Zweifelns und der tiefsten Gefühle bleibt zeitlos. Kein Wunder, dass nicht nur das Gesangbuch seinen Geburtstag feiert, sondern dass das Singen von geistlichen Chorälen inzwischen zum immateriellen Kulturerbe erklärt wurde.
Auf der Website mit-herz-und-mund.de stellt die EKD zahlreiche Informationen zum alten und neuen Gesangbuch und seiner Geschichte bereit.
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