Raus aus der Leistung
«Du musst keine Stille Zeit machen.» Die Worte meiner Freundin trafen mich, denn es war das, wonach ich mich gerade sehnte, und gleichzeitig widersprach es all meinen Überzeugungen.
Ich konnte sie nicht mehr hören – all die Andachten, all das christliche Gerede. Ich war auf einem theologischen Seminar. Es gab jeden Tag eine Andacht. Gebetszeiten. Unterricht über die Bibel. Ich war überall dabei, versuchte, alles zu erfüllen, was von mir erwartet wurde. Aber jetzt konnte ich das alles nicht mehr hören.
Einfach mal loslassen
Die Worte meiner Freundin gaben mir, meinem selbst gemachten Druck und meinem schlechten Gewissen die Erlaubnis: Also gut, dann mache ich jetzt eben keine Stille Zeit mehr. Ohne ihre «Genehmigung» hätte ich das nicht geschafft. Aber ich schätzte sie, vertraute ihr und ihrem Urteil. Ich brauchte sie, um loszulassen. All das «fromme Muss» in meinem Leben loszulassen. Denn ich versuchte schon lange, all meine negativen Gefühle mit frommen Leistungen wegzudrücken. Aber es klappte nicht mehr. Und als ich aufhörte mit dem frommen Leisten, kam all das hoch, was ich eigentlich nicht fühlen wollte. Da war Schmerz und da war Wut. Schmerz und Wut, die mich hinderten, zu Gott zu kommen. Ich fühlte mich wie ein trotziges Kind. So konnte ich nicht mehr mit Gott reden. Trotzdem wusste ich die ganze Zeit, dass er da war und auf mich wartete. Und es begann etwas zu heilen.
Damals wusste ich nur, dass ich Abstand brauchte von Gott. Ich fühlte mich von ihm verletzt. Aber Gott war nicht derjenige gewesen, der mich verletzt hatte. Es war mein Bild von Gott. Es waren all die Lügen, die mir sein Gegenspieler tief ins Herz gelegt hatte. Mein Versuch, mich zu verbiegen, um Gott zu gefallen. Und meine tiefe Überzeugung, dass ich für Gott nicht gut genug war.
Die Lügen erkennen
All die Wut endlich rauszulassen, gab mir auch die Gelegenheit zu bemerken, dass die Wut zwar begründet war, aber dass nicht Gott der Auslöser war. Gott war in vielen Dingen nicht der, für den ich ihn gehalten hatte. Ich dachte: «Gott erwartet von mir…» und «Ich muss erst so und so sein, damit ich gut genug vor Gott bin...» Und gleichzeitig habe ich gesagt: «Gott liebt mich.» Nur passte das irgendwie nicht zusammen. Ich konnte Gottes Liebe nicht spüren, weil ich unbewusst nicht an einen liebenden, sondern einen fordernden Gott geglaubt habe. Und erst als ich aufhörte zu versuchen, gut genug für Gott zu sein, konnte ich diese Lebenslüge begreifen.
Es war so heilsam. Ich habe keine Stille Zeit mehr gemacht. Konnte nicht beten. Aber ich habe so stark wie nie gespürt, dass Gott da war und liebevoll auf mich gewartet hat. Mein Leben lang habe ich gekämpft, um okay für ihn zu sein. Um zu genügen. Und dann? Musste ich einfach gar nichts machen. Einfach sein. Und ich musste mich nicht verbiegen. Ich durfte all die Gefühle rauslassen, von denen ich dachte, dass sie nicht da sein durften. All die Verletzungen, die mein falsches Gottesbild hinterlassen hatte, durften heilen. Es tat weh. Und es tat gut. Endlich durfte ich fühlen, was ich fühlte. Musste nichts mehr unterdrücken. Ich durfte loslassen und die Welt ist nicht zusammengebrochen. Nein, ich durfte heilen.
Das Problem mit der Liebe
Mein Problem, das ich mit der Liebe Gottes hatte, sehe ich heute immer wieder. Wir wissen: Gott ist Liebe. Wir wissen: Wir Christen sollen einander lieben. Und dann fällt alles, was wir über Gott glauben, in Gemeinden oder mit anderen Christen erleben, in den Kontext der Liebe. Aber nicht alles, was als Liebe bezeichnet wird, ist auch Liebe. Ich habe immer gedacht: Wenn ich unter Christen bin, bin ich in einem liebevollen und geschützten Rahmen. Einer Art Himmel auf Erden. Aber so war es in meinem Leben nicht. Auch unter Christen habe ich Verletzungen erlebt und vieles gesehen, was nicht gut war. Wir leben in einer gefallenen Welt und unsere Erkenntnis ist Stückwerk. Keine Gemeinde, kein Mensch zeigt uns vollkommene Liebe. Wir können sie nur bei Gott Stück für Stück entdecken.
Gott neu kennenlernen
Diese Krise war für mich so wichtig, weil ich dadurch heute endlich Gottes Liebe tief in meinem Herzen spüren kann. Nach meiner Sendepause mit Gott konnte ich ihm neu und anders begegnen. Plötzlich redete ich in meinem Herzen wieder mit Gott. Auf der Toilette einer verrauchten Kneipe. Eigentlich waren wir gerade auf einem christlichen Kongress, aber wir brauchten eine Pause. Und so waren wir in dieser Kneipe gelandet und hatten so gute und befreiende Gespräche, dass ich plötzlich wieder mit Gott reden konnte. Diese Kneipe wurde zu einem heiligen Ort für mich. Einem Ort der Gottesbegegnung.
Ich wusste: Gott wartet auf mich. Und endlich war ich wieder soweit, mit ihm zu reden. Und da, in dieser Kneipe, wo es kein Muss mehr von aussen gab, da redete ich in meinem Herzen plötzlich einfach los mit dem, der die ganze Zeit liebevoll auf mich gewartet hatte. Und seitdem lerne ich Gott neu und anders kennen und lieben. Seitdem kann ich Stille Zeit als etwas Wertvolles erleben, es ist meine Kraftquelle im Alltag. Meine Begegnung mit dem Gott, der mich liebt.
Und heute?
Leistungsgedanken kenne ich immer noch. Sie ploppen immer mal wieder auf. Und trotzdem ist es jetzt anders. Ich habe dieses tiefe Vertrauen entwickelt, dass ich von Gott angenommen bin. Mir ist heute so bewusst, dass er mich rettet und nicht ich mich selbst. Deshalb können mich Leistungsgedanken heute nicht mehr so tief treffen und ich erkenne sie auch schneller und kann sie schneller wieder loslassen.
Und auch wenn ich versuche, jeden Tag Zeit mit Gott zu verbringen, ist das für mich heute kein Druck mehr. Etwas hat sich in meinem Herzen verändert. Ich sehne mich danach, Zeit mit Gott zu verbringen. Ich tue es nicht, weil ich muss, sondern weil ich es brauche.
Vor einigen Jahren hat mich eine Freundin eingeladen, mit ihr und einigen anderen Frauen gemeinsam in der Bibel zu lesen. Wir haben Pläne herausgesucht, die jede dann für sich gelesen hat, und alle paar Wochen haben wir uns ausgetauscht. In so einer Gruppe bin ich bis heute. Denn ich habe festgestellt, wie gut mir das tut. Das heisst nicht, dass jeder das genauso machen muss. Denn es geht nicht um die Form. Es geht um uns. Und um unsere Beziehung zu Gott.
Es geht darum, ehrlich in uns hineinzuhören und ihm dann genau das zu sagen. Es geht darum, ihn auf unsere Art zu suchen. Und es geht um ihn, der genau da, wo wir sind, schon liebevoll auf uns wartet.
Hannah Rentschler ist Jugendreferentin in Elternzeit und Coachin und lebt mit ihrer Familie im Schwarzwald. Sie bloggt auf hannah-rentschler.de.
Dieser Artikel erschien im Magazin Joyce 01/24 vom SCM Bundes-Verlag.
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