Wertschätzung, auch wenn es knistert

Haben wir es verlernt, Spannungen auszuhalten?
Warum fällt es uns oft so schwer, mit anderen Meinungen und Einstellungen klarzukommen? Und wie kann es gelingen, das Gegenüber wertzuschätzen, auch wenn es ganz anders tickt?

Eigentlich müsste ich gerade Sachen packen, denn übers verlängerte Wochenende wollen wir weg. Mit einer tollen Truppe Menschen, jeder Menge Kinder und dem Wohnwagen geht es für vier Tage in die Natur. Wir wollen wandern, mit dem Floss auf dem See herumplanschen, grillen und vor allen Dingen Gemeinschaft erleben. Eine wunderschöne Sache. Wenn da nicht…

An einem Strang ziehen?

Wenn da nicht unsere unterschiedlichen Ansichten zum Thema Erziehung wären. Die eine Mutter mag es eher strukturiert und pädagogisch zumindest anspruchsvoll. Als Pädagogin sollte das eigentlich auch mein Anspruch sein, blöderweise mag ich es aber lieber kreativ-langweilig und zumindest im Urlaub laissez-faire. Grundsätzlich habe ich ein grosses Vertrauen in meine Kinder und dass die Dinge schon irgendwann gut werden, und mache mir um Alltägliches weniger Gedanken. Die Teenies hängen vor dem Handy? Was soll’s? Solange sie die Mahlzeiten mit uns einnehmen und an ein paar Gemeinschaftsaktivitäten teilnehmen, soll mir das recht sein. Ein Kind mag nicht wandern? Lass uns mal kreativ schauen, wie wir das lösen. Und falls irgendwer von den Erwachsenen auch nicht so viel Lust hat, habe ich nichts dagegen, wenn ein Teil der Gruppe am See bleibt. Wir haben doch schliesslich Urlaub.

Das sehen nicht alle in der Runde so. Einige würden sich wünschen, dass wir mehr an einem Strang ziehen und die Kids sich auch mal anpassen müssen, weil sie, so die Erfahrung, am Ende meistens trotzdem Spass haben. Letztes Jahr hatten wir dazu ein paar unschöne Diskussionen. Deshalb sitze ich gerade hier am Schreibtisch und haue in die Tasten, statt endlich zu packen. Tief in mir frage ich mich nämlich, ob es wirklich eine gute Idee ist, meine freien Tage inmitten solcher Spannungen zu verbringen. Realistisch betrachtet machen die Uneinigkeiten natürlich nur einen verschwindend geringen Prozentsatz unserer gemeinsamen Zeit aus. Meistens haben wir Spass zusammen, geniessen den Austausch, lernen voneinander und können uns stehen lassen und wertschätzen. Doch blöderweise merke ich, dass die Spannungen, die entstehen, sich oft stärker einprägen als all das Gute, das ich in Gemeinschaft erleben darf.

Die einzig gültige Wahrheit

Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir Strategien fehlen, um Reibung auszuhalten. Das war nicht immer so. Früher war ich gern mittendrin, immer da, wo diskutiert wurde, wo Meinungen aufeinanderprallen, wo es heiss zur Sache ging. Ich war neugierig auf andere Menschen und das, was sie denken. Habe mich für ihr Leben interessiert und versucht zu ergründen, wo diese ganz anderen Ansichten, als ich sie habe, herkommen und an welchen Stellen unsere gemeinsamen Nenner liegen könnten. Nicht umsonst habe ich als damals politisch eher links engagierte Studentin den Vorsitzenden des Rings Christdemokratischer Studenten geheiratet – das macht man nicht, wenn man ein Problem mit Spannungen und Unterschiedlichkeiten hat.

Doch in den letzten Jahren kommt es mir so vor, als hätte ich so einiges verlernt, was mich früher ausgemacht hat – und ich glaube, damit bin ich nicht allein. Andere stehen lassen, Spannungen und Unterschiedlichkeiten aushalten, das scheint schwieriger geworden zu sein.

Das hat meiner Ansicht nach verschiedene Gründe. Zum einen ist es im Zuge von sozialen Medien und dem schnellen Finden von Gleichgesinnten einfacher geworden, in der eigenen Suppe zu kochen. Wir können uns den ganzen Tag mit Menschen umgeben (zumindest virtuell), die uns zustimmen. Klar, gerade wenn wir in sozialen Netzwerken unterwegs sind, findet sich immer auch eine Menge Gegenwind. Diesen wiederum kann man aber gut aushalten, weil man sich ja in der Anonymität dieser Welt nicht weiter mit den Personen dahinter auseinandersetzen muss.

Dann ist es aber tatsächlich so, dass andere Meinungen – auch wieder hauptsächlich in der Anonymität des Internets, doch zunehmend leider auch offline – nicht mehr als Gesprächsangebot in den Raum gestellt werden, sondern als einzig gültige Wahrheit. Dabei bleibt es nicht. Diese Wahrheiten werden oft mit einer solchen Vehemenz vorgetragen, dass kaum noch Raum für Austausch vorhanden ist. Meist bleibt das nicht auf der Sachebene, sondern geht tief ins Persönliche. Menschen greifen sich gegenseitig verbal – und leider im Extremfall sogar körperlich – an, weil sie nicht aushalten, dass jemand über einen bestimmten Sachverhalt anders denkt.

Spannungen vermeiden

Wir Christen haben noch eine besonders fiese Möglichkeit, einander aufgrund von Unterschiedlichkeiten zu verletzen: Wir sprechen dem Gegenüber einfach den Glauben ab, führen Satan als eigentlichen Einflüsterer der «falschen Meinung» ins Bild, und schon müssen wir nicht mehr diskutieren oder uns auch nur im Ansatz auf die Gedanken des anderen einlassen.

Meinungen sind in ganz vielen Fällen keine Sachfragen mehr, sondern in höchstem Mass emotional aufgeladen – und somit bekommen Meinungsverschiedenheiten schnell etwas Existenzielles. Beziehungen werden infrage gestellt, wenn man merkt, dass man sich in bestimmten Themen nicht einig ist. Und ja: Manchmal ist das auch nötig. Es gibt Ansichten, die für den einen oder anderen wirklich bedrohlich oder schwer auszuhalten sind. Wenn Menschen dich aufgrund deines Seins ablehnen, du in deinem Umfeld mit Meinungen konfrontiert bist, die dich selbst oder dir nahestehende Menschen kränken und diskriminieren, geht es oft nicht, ohne dass du Abstand gewinnst.

Doch das Vermeiden von Spannungen fängt leider oft nicht erst da an, wo man sich selbst schützen muss, sondern da, wo es einfach nur ab und zu ein bisschen unbequem werden kann. Da fasse ich mich an die eigene Nase – wie man an meinem Beispiel oben sieht. Denn unterschiedliche Auffassungen darüber, wie wir unsere Kinder erziehen und welche Regeln für die paar wenigen Tage gelten sollten, sind weder bedrohlich noch existenziell (zumindest, solange sie sich im Rahmen eines gesunden Menschenverstandes und eines gewaltfreien Erziehungskonzepts bewegen). Sie sind nur ein bisschen nervig.

Kurzfristig ausgeladen

Aber wie kommt es dann, dass wir auch solche Spannungen heute am liebsten vermeiden würden und so süchtig nach Harmonie und Bestätigung zu sein scheinen? Ich habe darauf keine allgemeingültige Antwort, aber eine Beobachtung.

Ich erlebe viele Menschen heute als sehr unsicher, was ihr Zugehörigkeitsgefühl angeht. Wenn ich an die grosse, laute, diskussionsfreudige Sippe denke, aus der ich stamme, dann erinnere ich mich vor allem daran, dass es fast nicht möglich war, sich dort dauerhaft ins Aus zu katapultieren. Man stritt heftig und impulsiv, und am Ende des Tages war man trotzdem eine Gemeinschaft, eine Familie. Heute erlebe ich es häufiger, dass Menschen aufgrund ihrer Ansichten, ihrer Streitlust oder ihrer Unterschiedlichkeit irgendwo gar nicht mehr hinkommen dürfen. Das passiert im professionellen Kontext, wenn Referenten oder Rednerinnen kurzfristig ausgeladen werden, weil man auf einmal merkt, dass sich zu viele Leute an ihnen reiben (das passiert übrigens, anders als ein gängiges Vorurteil nahelegt, nicht nur bei «woken» Veranstaltungen, sondern auch das konservative Spektrum wählt mittlerweile sehr genau aus, wer wo noch was sagen darf). Es geschieht aber mehr und mehr auch im Privaten. Ich habe das Gefühl, wir alle haben mit unserem Leben und den täglichen Aufgaben so viel um die Ohren, fühlen uns oft so stark belastet, dass uns die Kraft und die Lust fehlt, auch noch unsere Freizeit damit zu verbringen, für uns schwierige Ansichten auszuhalten.

Ermutigung statt Wahrheit

Eine gute Erfahrung, die ich gemacht habe, wenn es darum geht, hier gegenzusteuern, ist tatsächlich, den Fokus wieder auf die Gemeinsamkeiten zu legen: Was läuft eigentlich gut? Wo kommen wir zusammen? Was können wir trotz der Unterschiedlichkeiten vielleicht doch gemeinsam wuppen? Was kann ich von dir lernen? Kann ich mir von meiner Freundin und ihren eher strengen Ansichten etwas abschauen, was mir in schwierigen Situationen helfen kann? Und könnte ich mit meiner Lockerheit auch Inspiration für sie sein? Oder können wir uns – ach, wäre das schön – am Ende des Tages bei einem Glas Wein zugestehen, dass wir die Dinge völlig unterschiedlich handhaben und dabei beide einen wundervollen Job machen?

Ein weiterer Punkt, der uns ermutigen kann, auch wieder Spannungen auszuhalten, ist, immer wieder den Ausgleich zu suchen. Wir Christinnen und Christen belehren uns ja gern und gefallen uns oft darin, den Finger in die Wunden zu legen, «Wahrheit zu sprechen». Etwas schwerer tun wir uns damit, einander zu ermutigen, uns liebevolle Dinge zu sagen, uns zu loben und unseren Fokus auf das zu richten, was jemand richtig gut macht. Wie wäre es, wenn wir die, an denen wir uns am meisten reiben, täglich mit Liebe für all das überschütten, was wir an ihnen toll finden? Wenn wir ihnen die Sicherheit geben, dass sie bei uns angenommen und geliebt sind – und erst dann und im Rahmen dieser Sicherheit mal ordentlich aneinanderrumpeln?

Zum Thema:
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Autor: Daniela Albert
Quelle: Magazin Family 5/2024, SCM Bundes-Verlag

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