Versöhnung als Lebensstil
Versöhnungsgeschichten berühren und erreichen Herzen in einzigartiger Tiefe. Das ist ein Hinweis auf eine tiefliegende Sehnsucht des Menschen. Wir leiden an der Entfremdung zu geliebten Menschen und, wenn für viele auch unbewusst, am Getrenntsein von Gott. Daraus entsteht eine Leere, ein innerer Schmerz, ein Defizit oder auch eine Last, die durch eine Versöhnung plötzlich abfällt.
Vergebung ist nicht Selbstzweck
«Ich vergebe dir, will aber nichts mehr mit dir zu tun haben!» Eine sonderbare Aussage! Ist das wirklich Vergebung? Klar, manchmal braucht es nach der Entscheidung zum Vergeben Zeit, bis eine unbelastete Begegnung mit dem Gegenüber möglich ist. Doch eine wiederhergestellte Beziehung ist das Ziel des Vergebens; so sollte es zumindest sein.
In den letzten Jahrzehnten erhielt Vergebung eine therapeutische Dimension. Psychologen hatten erkannt, wie kraftvoll Vergebung für den Heilungsprozess ist. Sie dient als Heilmittel gegen Groll und Bitterkeit und fördert seelische Gesundheit. Für seelsorgerliche Prozesse sind diese Erkenntnisse wertvoll und unterstreichen die Bedeutung der biblischen Aufforderung zum Vergeben. Inzwischen hat sich diese therapeutisch motivierte Vergebung jedoch so weit verbreitet, dass sie zunehmend als Selbstzweck verstanden wird. Zum Vergeben braucht man kein Gegenüber mehr, welches sie annimmt und die Wiederherstellung von Beziehungen wurde zu etwas Optionalem. Wenn Vergebung nicht mehr als Versöhnung, sondern nur noch als persönliche Heilung verstanden wird, haben wir aus den Augen verloren, worum es eigentlich geht.
Warum starb Jesus am Kreuz?
Weshalb starb Jesus am Kreuz unter unvorstellbaren Qualen? Eine verbreitete Antwort ist: um den Menschen ihre Sünden zu vergeben. Doch genau genommen, stimmt dies nicht. Jesus starb den Foltertod auch nicht mit dem Ziel, Menschen vor einer ewigen Strafe zu verschonen. Natürlich hat er dies getan, doch es war nicht das Ziel. Nein, Jesus ging es letztlich nicht um Straferlass, sondern darum, Menschen mit Gott zu versöhnen! Er sagte eben nicht: «Ich vergebe dir, will aber nichts mehr mit dir zu tun haben!» Gott wollte Freundschaft schliessen mit den Menschen, welche sich für diese Freundschaft disqualifiziert haben – und auch mit denjenigen, deren Leben durch die Verbrechen anderer zerstört wurde. Deshalb brachte Jesus Vergebung; doch diese ist nicht das Ziel. Nein, es geht letztlich um Versöhnung. Am Ende gibt es nichts, welches im Leben eines Menschen derart umfassende Konsequenzen hat, wie die Erfahrung der Versöhnung mit Gott. Deshalb wurde Gott Mensch und deshalb bietet er den Menschen unaufhörlich Versöhnung an. Millionen von Frauen und Männer haben bereits eine radikale Veränderung in ihrem Leben erfahren, als sie diese Versöhnung mit Gott angenommen hatten.
Versöhnte werden zu Botschafter der Versöhnung
Wer eignet sich besser zum «Beziehungs-Wiederhersteller» als jemand, der selbst eine existenzielle Versöhnung erlebt hat. Da müssen Christen zwingend dabei sein. Sie wissen, dass sie sich für die Gemeinschaft mit Gott disqualifiziert haben und erlebten, wie Gott sie trotzdem zu seinen Freunden erklärte.
Versöhnung bedingt die Bereitschaft, die Beziehung zum Gegenüber an die erste Stelle zu rücken und dabei das Bedürfnis nach Gerechtigkeit oder die eigene Ehre zurückzustellen. Sie bedingt die Bereitschaft zum Vergeben und jeden annähernden Schritt des anderen zu würdigen – auch dann, wenn wir eigentlich mehr erwarten. Oft ist Versöhnung die Sache einer Entscheidung, manchmal auch die Bereitschaft, sich auf einen Weg der Versöhnung und Wiederherstellung zu begeben.
Versöhnung leben
Bei schweren Vergehen braucht es ernsthafte Aussprachen und manchmal einen gründlichen Versöhnungsprozess. Doch auch im alltäglichen Leben braucht es die kleinen, versöhnenden Handlungen, welche Beziehungen herstellen und grössere Konflikte gar nicht erst aufkommen lassen. Nehmen wir das Beispiel einer Sitzung, bei welcher heftig diskutiert wird und auch mal Emotionen hochkommen. Die Art, wie sich die Personen dann voneinander verabschieden, kann entweder das Gefühl einer intakten Beziehung zurücklassen, oder auch einer fortwährenden zwischenmenschlichen Spannung.
Manchmal enttäuschen wir unsere Mitmenschen und werden von ihnen enttäuscht. Da braucht es oftmals keine grosse Sache, um die Beziehung ins Lot zu bringen. Ein freundliches, wertschätzendes Wort kann eine heilende Wirkung haben und ist meistens hilfreicher als lange Gespräche darüber, wer wem was schuldig geworden ist. Bei tieferen Verletzungen und folgereichen Vergehen braucht es allerdings Aussprachen. Ideal ist natürlich, wenn Täter ihre Fehler bekennen und um Verzeihung bitten. Manchmal müssen Personen auf ihr falsches Verhalten aufmerksam gemacht werden. Egal, welcher Weg gewählt wird: Letztlich muss es immer darum gehen, Beziehungen zu schützen und wiederherzustellen.
Am Ende unseres Lebens wird nichts eine so grosse Bedeutung haben wie unsere Beziehungen. Mit Gott und Menschen versöhnt zu sein, ist das höchste Gut! Und es gibt keine höhere Berufung, als Frauen und Männer der Versöhnung zu sein – Menschen, welche versöhnt leben, Versöhnung feiern und Versöhnung in die Welt hinaustragen.
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