Über die Kunst der Urteilsbildung

Thomas Härry
In unserer Gesellschaft scheint der christliche Glaube schnell an Bedeutung zu verlieren. Dadurch kommen neue Fragestellungen und damit zusammenhängend Spannungen auf. Der Theologe Thomas Härry hilft mit Klärungen.

Thomas Härry, Autor und Dozent am TDS Aarau, spricht mit Florian Wüthrich über theologische Spannungen unserer Zeit. «Ich stelle diese Spannungen natürlich auch fest, weil sie in meinem Umfeld auftauchen, bei Menschen, die ich kenne, und bei Gemeinden.»

«Es ist eine hohe Kompetenz, ein Urteil zu finden»

«In der Geschichte gab es immer diese Situationen – und es gibt sie in jedem persönlichen Leben – wo man Klarheit finden muss. Wo man sich eine Meinung bilden muss und aufgrund dieser Meinung dann das Handeln gestaltet.» Eine Regel von Benedikt besage, dass das Urteilsvermögen die wichtigste Eigenschaft eines Abtes (Leiter eines Klosters) sei. «Letztlich führt uns dieses Thema auch an genau diesen Punkt: Wir müssen uns ein Urteil bilden.»

Aufgrund neu aufgetauchter Fragen könne man nicht einfach alles so sehen, wie man es schon immer gesehen hat. «Urteilsbildung ist ein Prozess. Er ist nicht einfach und ist nicht billig. Es ist eine hohe Kompetenz, ein Urteil zu finden.»

Oberflächliche Meinungsbildung führt zu  Extremen

Heute bestehe oft die Erwartung, dass man sich zu neuen Themen sofort eine Meinung bilden muss. Thomas Härry sieht dies als ein Problem, wenn wir uns nicht die nötige Zeit nehmen, um sorgfältig in einen Klärungsprozess einzusteigen. «So neigen wir dann in der Regel zu zwei Extremen. Das erste ist, uns schnell anzupassen und einer Strömung aufzuspringen.» Das andere Extrem sei das Gegenteil davon. «Wir gehen sofort in den Widerstand, zitieren irgendwelche Bibelverse, bei denen wir sagen, sie würden alles sagen und klar machen.» Um sich nicht weiter mit dem Thema beschäftigen zu müssen, wird dann jede Diskussionen verweigert. Thomas glaubt, dass diese Extreme nicht zielführend sind.

Prozesse zu einem gemeinsamen Standpunkt

Doch wie sollte dann mit neuen Themen und Fragen umgegangen werden? «Ich würde Leitenden sagen: Kein Stress! Du musst nicht denken, dass du alle Antworten haben musst.» Thomas wünscht sich, dass sich Leitungspersonen die Zeit nehmen, die sie zum Finden von Antworten brauchen. Als zweiten Tipp sagt Thomas, dass auch Gemeinden längere Prozess gehen sollten, um zu einem gemeinsamen Standpunkt zu finden.

Thomas Härry regt an, beispielsweise eine Predigreihe zu machen und sich am Ende jeder Predigt für die Sichtweisen von Gemeindeglieder zu öffnen. «So kann man schauen, wie es den Leuten mit solchen Fragen geht und was sie bewegt.» Viele Gemeinden hätten aber nie gelernt, respektvoll über Meinungen zu diskutieren und einander ausreden zu lassen.

Viele Gemeindeglieder würden sich auch über YouTube und andere Quellen informieren. «Früher hatte ein Gemeindeglied einen Pfarrer, heute hat es 100.» Durch dieses Informiertsein ist in der Gemeinde eine Diskussion möglich. Im ersten Schritt solle diskutiert und zugehört werden, ohne gleich gewisse Sichtweisen zu verurteilen. Dann gelte natürlich die Frage, was die Bibel sagt und letztlich gelte es zu definieren, welche Überzeugungen für die Gemeinde zählen.

Tragende Glaubenskonzepte entdecken

Im Talk geht es auch ums Buch von Martin Benz («Wenn der Glaube nicht mehr passt: Ein Umzugshelfer»), in dem der Weg beschrieben wird, um ein persönlich unpassendes Glaubenssystem zu verlassen und sich neu zu orientieren (sprich: umzuziehen). «Ich habe es toll gefunden, einen Einblick in seinen Weg zu erhalten», sagt Thomas über die Lektüre des Buches. «Man kann sehr gut nachvollziehen, was Martin beschreibt.» Es sei gut, wenn Verkrümmungen in der eigenen Glaubensbiografie überwunden werden können.

«Was ich mir von Martin wünsche, ist, dass er noch ein zweites Buch schreibt, in welchem er den Einzug noch mehr beschreibt.» Dabei sollte es darum gehen, wie man erneut zu einer guten Form von Glaubenssubstanz finde. «Was bleibt denn am Ende? Und was ist die Hoffnung nach vorne?» Sich von ungenügenden Glaubensbildern zu verabschieden sei eine Sache, tragende Glaubenskonzepte zu entdecken jedoch eine ganz andere.

Mut, in schwierigen Fragen ein Urteil zu finden

Thomas Härry schliesst sich Dietrich Bonhoeffer an, welcher sagte: «Wer Verantwortung übernimmt, muss bereit sein, Fehler zu machen.» Beim Treffen von Entscheidungen werden immer auch Fehler gemacht. Genau deshalb sei es wichtig, der Gnade Gottes zu vertrauen, welche auch dann trägt, wenn unsere Entscheidungen nicht optimal sind.

«Manchmal muss man – gerade auch bei ethischen Fragen – zwischen Idealbild und der Realität unterscheiden.» Thomas betont das Zerbrochene und das, was sich in dieser Welt vielleicht nie befriedigend lösen lässt. Man müsse ein Ja dafür haben, dass es eine reale Ethik gibt, die dem Menschen gerecht werde und nicht einer idealen Ethik entspricht. Dies solle aber auch nicht in einer Beliebigkeit enden. «Es ist ein Graubereich und wer sich darin nicht zu bewegen wagt, wird letztlich in einem Extrem landen.»

Sehen Sie sich den Livenet-Talk mit Thomas Härry an:

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Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet

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