Plädoyer für «unbiblisches» Erziehungs-Verständnis
Die US-Bloggerin Cindy Brandt fragte auf ihrer Facebookseite: «Wenn Jesus Kinder gehabt hätte, hätte er sie geschlagen?» Die meisten Antworten gingen in die gleiche Richtung: «Nein», «Natürlich nicht», «Wenn er das täte, würde ich ihm nicht mehr nachfolgen…». Allerdings treffen hier Welten aufeinander. Von unserem Verständnis her (und der aktuellen Rechtslage!) ist Prügelstrafe illegal. Zur Zeit von Jesus war sie absolut selbstverständlicher Alltag.
Wie biblisch ist das «biblische» Bild?
Ganz kurz: Es war keine Freude, früher, in der Antike bzw. in biblischen Zeiten, ein Kind zu sein. Nach heutigen Massstäben wurden Kinder damals überlastet und waren permanenter Gewalt ausgesetzt. So etwas wie «Kindheit» gab es gar nicht. Und unsere grossen Glaubensvorbilder stehen in der ersten Reihe derer, die Kinder – aus heutiger Perspektive – missbrauchten. Abraham opferte seinen Sohn Isaak. Okay, er stach nicht zu, aber das hätte er getan. Was passiert in solchen Momenten mit einer Kinderseele? Und diese Geschichte wird im Hebräerbrief als Beispiel für echten Glauben nacherzählt (Hebräer, Kapitel 11, Vers 17ff)! Als Mose das Volk Israel aus Ägypten führen sollte, starben alle erstgeborenen Kinder im Land (2. Mose, Kapitel 12, Vers 29). Ihre einzige Schuld war es, Kinder zu sein und Ägypter. Im Neuen Testament kommt es um die Geburt Jesu herum zu einem weiteren Genozid: Herodes lässt in der Region um Bethlehem alle Kinder unter zwei Jahren umbringen (Matthäus, Kapitel 2, Vers 1).
Natürlich sind diese schrecklichen Beispiele keine biblischen Erziehungsratschläge. Sie zeigen aber deutlich das Umfeld der Ratschläge, die die Bibel zur Erziehung enthält. Und sie hinterfragen dadurch einzelne Verse mit Empfehlungen, die viel zu oft als sogenannte biblische Massstäbe herhalten müssen. Besonders gilt dies für die bekannte Aufforderung der Sprüche: «Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten.» (Sprüche, Kapitel 13, Vers 24 nach Luther)
Die Bibel ist kein Erziehungshandbuch
All dies unterstreicht letztlich eine Wahrheit: Die Bibel ist kein Erziehungsratgeber. Sie enthält viele Geschichten, die so geschehen sind. Sie gibt Anweisungen, von denen manche bis heute uneingeschränkt gültig sind und andere nicht. Sie spricht viel von Liebe – sowohl von Gott als auch von Eltern. Aber es ist nicht das Ziel der Bibel und ihrer Autoren, ein Erziehungshandbuch abzuliefern. Das macht sie übrigens in diesem Kontext nicht unwichtiger, es erhöht nur unsere Eigenverantwortung als Leserin und Leser. Denn hoffentlich lassen sich Eltern auch heute von biblischen Werten in ihrer Erziehung leiten. Wohlgemerkt sind hier allerdings meist die dahinterstehenden Werte gefragt und nicht die direkten Handlungsanweisungen in ein antikes Umfeld hinein.
Wie gehen wir mit den Aussagen der Bibel zu Erziehung um?
1. Damit kämpfen
Die Bibel enthält viele schwierige und aus heutiger Sicht scheinbar überholte Aussagen. Lassen Sie diese erst einmal stehen. Nicht alles, was Sie ablehnen und nicht direkt durchschauen, ist automatisch schlecht. Fragen und hinterfragen Sie. Beachten Sie den historischen Kontext. Und wenn Sie auf Aussagen stossen, die Sie absolut nicht mittragen können (wie die Anweisung zum Schlagen oben), dann vergessen Sie nicht, mit der damaligen Gesellschaft gnädig zu sein. Auch heute denken in Deutschland um die 40 Prozent, dass eine Erziehung ganz ohne körperliche Strafe nicht möglich ist (Forsa-Umfrage, 2012), obwohl die gesetzliche Situation sehr eindeutig ist. Setzen Sie sich jedenfalls mit Ihren Fragen, Ihrem eigenen Hintergrund und den Aussagen der Bibel auseinander.
2. Das Vorbild von Jesus sehen
Gerade vor dem Hintergrund seiner Zeit ist es besonders, wie Jesus selbst Kindern begegnete. Die wenigen Stellen, die darauf Bezug nehmen, sind von einer besonderen Herzlichkeit und Wärme, wenn er sie willkommen heisst, umarmt und segnet.
3. Der Richtung der Bibel folgen
Die Bibel hat eine Richtung. Sie holte Menschen aus der Bronzezeit da ab, wo sie standen, sie brachte Menschen aus der Eisenzeit voran und sie ermutigt Menschen bis heute zum jeweils nächsten Schritt in der Nachfolge. So destruktiv oft das Befolgen einzelner Verse sein kann («Schone deine Rute nicht!»), so hilfreich ist es, den Linien der Bibel zu folgen, die Menschen aller Zeiten zu einem Leben mit Gott ermutigt haben, einem Leben, das von seiner Liebe und Wahrheit geprägt ist.
Überflüssige oder notwendige Diskussion?
Manch einer mag die Augen verdrehen und sich fragen: «Sind solche Hinweise überhaupt nötig?» Kurze Antwort: «Ja!»
Am 30. April war der «Tag für gewaltfreie Erziehung» und aus diesem Anlass posteten einige Theologen und Autoren ihr Selbst- und biblisches Verständnis zum Thema bei Facebook. Sie zeigten deutlich, wie breit das biblische Verständnis sein kann. Welche positive Entwicklung möglich war und ist. Und welch erschreckende Engführung geschieht, wenn der «Gebrauch der Rute» fester Bestandteil von Erziehung ist. Gegen geltendes Recht wird dies immer noch in einzelnen christlichen Erziehungsbüchern propagiert (z.B. in John Mac Arthurs «Kindererziehung. Wir wollen es besser machen»).
Die Reaktionen auf diese Artikel reichten von glühender Ablehnung bis hin zu unbedingter Zustimmung. Auch dieser Beitrag hier wird die Welt der Kindererziehung nicht revolutionieren, aber er kann vielleicht dazu beitragen, ein Thema im Bewusstsein zu halten, das es wert ist, weiter diskutiert zu werden. Immerhin geht es um unsere Kinder.
Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Neuauflage. Er erschien am 14.05.2018 auf Jesus.ch
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