Auf der Zielgeraden zur WM
«Als Kind und Jugendliche realisierte ich kaum, dass ich mit einer Einschränkung lebe», hält Romy Tschopp fest. Sie wird 1993 mit Spina bifida (offenem Rücken) geboren. Die inkomplette Querschnittslähmung verhindert, dass verletzte Nerven ihre Muskeln ansteuern können. Kaum auf der Welt, erfolgt die erste OP, der Rücken wird verschlossen und Physiotherapie angeordnet. «Die Ärzte erklärten meinen Eltern, ich würde nie laufen lernen», sagt Romy. Doch ihre Mutter lässt sich nicht entmutigen, trainiert täglich mit ihrer kleinen Tochter.
Romy wächst als zweites Kind mit zwei Schwestern und einem Bruder in einer polysportiven Familie auf. Biken, Inlineskaten, Wandern, Klettern, Skitouren – das gehört zum Familienalltag. Genauso wie ein grosses Gottvertrauen. «Dass Gott mich liebt und immer bei mir ist, hat meine positive Einstellung zum Leben massgeblich geprägt», bekräftigt Romy.
Spital und Reha – immer wieder
«Ich habe Monate und Jahre meines Lebens im Spital oder in der Reha verbracht», sagt Romy. Eben erst ist sie aus einer Reha zurückgekehrt, musste nach einer Bauch-Not-OP einmal mehr wieder ihre Muskeln trainieren und aufbauen. Konnte Romy als Kind noch laufen, springen und rennen, nutzt sie heute oft den Rollstuhl. Doch die Sportlerin ist auch eine Kämpferin. Sie trainiert hart, um Fähigkeiten zurückzugewinnen. Eine Psychologin hat sie dabei unterstützt, mit ihrem Schmerzsyndrom umzugehen. Ab dem Rumpf bis zu den Füssen hat Romy immer Schmerzen oder Störungen der Sensibilität: «Es fühlt sich an wie Ameisenlaufen oder Stiche, die von den Nerven ausgelöst werden, mehr oder weniger stark.»
Hochzeitsglocken
2013 trifft Romy an einer Geburtstagsparty auf die Liebe ihres Lebens. Nach fünf Jahren, während einer Reha-Phase, heiraten die beiden zivil. 2019, ein Jahr darauf, folgt die kirchliche Trauung – und bereits am nächsten Tag die grosse Ernüchterung: Romy wird wieder von starken Bauchschmerzen geplagt und muss hospitalisiert werden. Die Flitterwochen, auf die sich die zwei so gefreut hatten, fallen ins Wasser. Romy und ihr Liebster holen sie 2020 nach.
Immer deutlicher zeigt sich, dass eine Schwangerschaft eine zu grosse Belastung für den strapazierten Bauch der jungen Frau wäre. Von einer Familienplanung muss sich das Paar verabschieden. «Das ist schon hart», gibt Romy zu. Zusammen mit ihrem Mann übt sie Dankbarkeit und fokussiert sich bewusst auf all das, was möglich ist, sagt: «Gottes Liebe übersteigt unsere Vorstellungskraft. Sie ist grösser als alles.» So geniessen es die beiden, gemeinsam zu biken, Wintersport zu treiben und am Familienleben von Freunden teilzuhaben.
Freund Rollstuhl
Körperlich wie mental muss sich Romy immer wieder anpassen. Durch die wiederkehrenden Rückschläge braucht sie viel Erholungszeit. So musste sie auch ihre Ausbildung zur Fachfrau Bewegung und Gesundheitsförderung ein ganzes Jahr lang wegen Operation und Reha unterbrechen. «Hilfsmittel wie Stöcke oder den Rollstuhl betrachte ich heute als Freunde, sie entlasten mich», erklärt Romy. Anstatt ihre beschränkte Energie dafür aufzuwenden, den Tag stehend und gehend zu verbringen, benutzt sie heute den Rollstuhl und spart sich ihre Kraft für andere Dinge.
Neues Ziel
Auch die grösste Optimistin kann körperlich und mental einmal an ihre Grenzen kommen. 2019 erlebt Romy in der Reha einen Durchhänger. Sie ist müde, mag nicht immer kämpfen: «Ich habe gemerkt, dass ich ein Ziel brauche, etwas, das mich begeistert», erklärt Romy. Schnell erkennt sie, dass Snowboarden sie immer wieder motiviert und meldet sich beim Nationaltrainer des Swiss Parasnowboard-Teams. Kurz nach ihrer Reha zeigt sie einen Probelauf. Romy ist noch nicht fit und muss immer wieder pausieren. Trotzdem ist der Trainer von ihrem Fahrtalent beeindruckt und nimmt sie ins Team auf.
In der Saison 2020/21 fährt die Baselbieterin in Colere, Italien, ihr erstes Rennen im Snowboardcross und belegt den 6. Platz. Ein Jahr darauf und nach vielen Stunden Training und Materialanpassungen absolviert sie in Holland den Europacup. In der Disziplin Blanked Slalom gewinnt sie den ersten Platz und wird so direkt in den Weltcup befördert. Als erste Schweizer Snowboarderin nimmt sie 2022 an den Paralympics in Peking teil, führt die Schweizer Delegation als Fahnenträgerin an der Eröffnungsfeier an. «Das war einfach grossartig», blickt die Athletin zurück.
Sensibilisieren und motivieren
Mit dem Verein PlusSport setzt sich Romy an Schulen für Inklusion ein und sagt über ihr Engagement: «Ich möchte Menschen mit und ohne Beeinträchtigung ermutigen, etwas auszuprobieren, das im ersten Moment nicht machbar scheint. Gerade in unserer Vielseitigkeit können wir uns unterstützen, voneinander lernen und gemeinsam unterwegs sein.» Auch als Referentin in Unternehmen schlägt Romy Brücken zwischen den Herausforderungen von Menschen mit Beeinträchtigung und denen der Angestellten. Die junge Frau schöpft dabei aus ihrem reichen Erfahrungsschatz und steckt mit ihrer Zuversicht alle an.
Time-out
Um für die kommenden Wettkämpfe fit zu sein, trainiert Romy zurzeit täglich. Ihr Mann unterstützt sie mental, die beiden ergänzen sich in vielen Lebensbereichen. Die gemeinsame Geschichte hat das Ehepaar zusammengeschweisst. Bevor bald wieder das Training im Schnee startet, möchte Romy noch einmal Wärme tanken. Zwei Wochen Südfrankreich sind gebucht. Romy strahlt: «Darauf freue ich mich riesig!»
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