«Ich mag Schlitzohre und Frechdachse»

Tinu Heiniger, 76 Jahre, lebt mit Partnerin und Sohn in Kölliken im Aargau
Tinu Heiniger ist Schweizer Liedermacher und Mundartsänger aus dem Emmental. In einem seiner Lieder «Feiss und Wyss» singt er über eine weisse und mächtig erscheinende Kirche, die hoch über dem Dorf thront. Eine Kirche, in der ihm das Wilde fehle…

Der Theologe und Barkeeper, Tobias Rentsch, traf den illustren 76-Jährigen oberhalb von Langnau i.E. auf der Hochwacht zu einem Gespräch. An seiner Velobar «Unfassbar», mit der der gebürtige Burgdorfer regelmässig dem Unfassbaren auf der Spur ist und unterschiedlichste Menschen trifft, hiess er Tinu mit einer erfrischenden Apfelschorle willkommen.

Wissen wandert weiter

Mit einem zufriedenen Lächeln und wärmenden Sonnenstrahlen im Gesicht bestaunen die beiden zu Beginn das wunderschöne Berner-Alpenpanorama. Die Aussicht reicht vom Hohgant, über das Breithorn, bis hin zum Naturpark Gantrisch. Die Liebe zu den Bergen bekam Tinu von seinem Grossvater mit auf den Weg. Auf den gemeinsamen Wanderungen lehrte er nicht nur ihm, sondern auch gleich allen anderen Wanderern, die sie unterwegs antrafen, die Namen aller Berggipfel. Tinu war das damals oft peinlich. Doch heute, so stellt er fest, erklärt er die Berge selbst gerne allen, die es interessiert. Auch an seine Grossmutter erinnert er sich gut. Sie hatte einen besonders starken Bezug zu Jesus. Als kleiner Junge war Tinu oft bei ihr: «Sie hat mit mir Kirchenlieder gesungen, darunter das bekannte ‹Gott ist die Liebe›. Auch von seinem Grossvater (väterlicherseits), der Prediger war, wurde ihm der christliche Glaube vermittelt und vorgelebt. Tinu kam auch mit Menschen in Kontakt, die von sich selbst sagten, dass sie gläubig seien, dies aber überhaupt nicht lebten. Das irritierte ihn und bringt ihn noch heute zum Nachdenken.

«Meine Grossmutter hat mit mir Kirchenlieder gesungen.»

Leere Kirchen

In seinen Liedern beschäftigt er sich vorwiegend mit seiner Vergangenheit und setzt sich kritisch mit dem Glauben auseinander. Im Lied «Feiss und Wyss» befasst er sich mit den sich leerenden Kirchen und den sich immer mehr füllenden Konsumhäusern. Er singt: «Der Einkaufslärm draussen ist lauter, als das Gebet drinnen.»

Die Religion und das Leben

Tinu geht gern in Kirchen, auch wenn er dort das Wilde vermisst. «Die Religion und das Leben gehören zusammen und darum gehört auch das Wilde und Fürchterliche dazu», erklärt der Liedermacher. Damit meint er, dass es schön und gut sei, Friedensfahnen aufzuhängen und Gebete zu sprechen, doch manchmal müsse man auch einfach Stopp sagen können. Ein guter Anfang wäre, so meint er, wenn jeder zuerst in seinem eigenen Herzen etwas verändern würde, bevor er versuche, die Welt zu ändern. Auf seiner Webseite schreibt der Musikmensch: «Ich mag keine Graumäuse, dafür aber Schlitzohren und Frechdachse.»

Das «Hähnlein» im Wind

Während dem sich die beiden über die unterschiedlichsten Facetten des Lebens unterhalten, merkt man, dass es Tinu nicht um eine Abrechnung geht, sondern um versöhnliche Töne. Dabei redet er Situationen, auch seine oft schwierige Vater-Sohn-Beziehung, nicht einfach schön. Er beleuchtet flüchtige Momente, eigene Beobachtungen, die zum Nachdenken anregen, darunter die Liedstrophe aus «Feiss und Wyss» über den goldenen Hahn, der zuoberst auf der Turmspitze
steht und kräht und sich nach den wehenden Winden dreht.

In seinem bekannten Lied «Jede chunnt und jede geit» befasst sich Tinu mit dem Tod und der Vergänglichkeit. Diese Themen beschäftigen ihn. Mit seinem Vater hat er sich noch zu Lebzeiten versöhnen können und auch er scheint mit sich und seiner Vergangenheit versöhnt zu sein.

Zur Person

Meine Lieblingsbeschäftigung an verregneten (Sonntag-) nachmittagen:
Auch wenns «schiffet», gehe ich in den Wald.

Meine Lieblingsmusik:
Bob Dylan, sein neustes Album «Rough and Rowdy Ways»Auf diese App möchte ich auf keinen Fall verzichten:
SBB

Buchtipp

Mitte September erschien Tinu’s neustes Buch «Mein Emmental – Geschichten aus der schönen, engen Welt von Gestern» beim Zytglogge Verlag

«Nachgefasst mit Tinu Heiniger»

Oberhalb von Langnau i.E. treffen sich Tinu Heiniger und Tobias Rentsch auf ein erfrischendes Getränk. «Feiss u Wyss» sei die Kirche, das singt Tinu Heiniger im gleichnamigen Lied, das Tobias seit seinem Theologiestudium begleitet. Darüber unterhalten sie sich.

Autor: Markus Hänni
Quelle: HOPE-Regiozeitungen