Noch bleibt Teherans Angriff auf Israel rätselhaft

Ali Chamenei, religiöses Oberhaupt des Irans, und Benjamin Netanyahu, Ministerpräsident von Israel
Es war eine Frage der Zeit. Seit mehr als zwei Jahrzehnten kündigt der Iran die Vernichtung Israels an. Über das Wochenende fühlten sich die Mullahs in Teheran nun stark genug, einen ersten Probe-Angriff zu starten.

Erstmals überhaupt hat der Iran über das Wochenende Israel direkt attackiert – den Angriff durch die Babylonier und die generationsübergreifende Verschleppung ins persische Reich in der Antike einmal ausgeklammert.

Gleichzeitig mit Irans Luftangriff mit über 300 Drohnen und Raketen, führte die Hisbollah vom Libanon aus sowie die Huthi-Miliz im Jemen Attacken auf israelische Ziele aus.

Als Vergeltung dargestellt

Das geistliche Oberhaupt des Iran, Ayatollah Ali Chamenei, kündigte bereits vor mehreren Tagen eine Offensive an. Dies nach einem Israel zugeschriebenen Angriff auf ein iranisches Konsulat in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Dabei wurden Anfang April 16 Menschen getötet, darunter zwei Generäle der iranischen Revolutionsgarden, denen dieser Schlag gegolten hatte.

Zeitgleich mit der Attacke in der Nacht auf Sonntag bemühte sich Teheran um ein Ende der Kampfhandlungen. Hussein Salami, Kommandeur der iranischen Revolutionsgarden, sprach von einer «einmaligen Vergeltungsaktion von begrenztem Ausmass». Gleichzeitig warnte er Israel vor einer militärischen Antwort.

Schlag in Damaskus galt eigener Sicherheit

Teheran schlägt ein neues Kapitel auf. Es ist das erste Mal seit 33 Jahren, dass Israel nun wieder direkt von einem anderen Staat angegriffen wurde – das letzte Mal erfolgte das im Jahr 1991 durch Saddam Husseins Irak.

Dass die Mullahkratie einen «Vergeltungsschlag» geltend macht, ist unsinnig. Israels Offensive in Syrien eingangs April zielte auf die eigene, innere Sicherheit ab. Denn die bei diesem Angriff gezielt getöteten iranischen Offiziere koordinierten die täglichen Angriffe der iranisch gesteuerten Hisbollah. Um diese konstanten Attacken auf israelische Zivilisten zumindest zu bremsen, entschied sich Israel, die Strippenzieher zu stoppen.

Umgehend wird Israel nun – insbesondere von den USA – bekniet, von einem Gegenschlag abzusehen. Doch die Frage ist, ob Jerusalem einen Angriff einer anderen Nation auf das eigene Staatsgebiet unbeantwortet lassen kann. Es käme einer Einladung fürs nächste Mal gleich.

Iran mit Israel-Vernichtungs-Countdown

In aller Öffentlichkeit spricht der Iran seit mittlerweile über 20 Jahren von der Vernichtung Israels mittels Atomwaffen. Die «Welt am Sonntag» (WamS) etwa zitierte bereits im Dezember 2001 den damaligen iranischen Präsidenten Rafsandschani: «Die Anwendung einer einzigen Atombombe würde Israel völlig zerstören, während sie der islamischen Welt nur begrenzte Schäden zufügen würde.» Und falls der Iran über Atomwaffen verfüge, so Rafsandschani damals in der «WamS», so würden diese im Hinblick auf Israel «nicht nur zur Abschreckung dienen».

Im Iran wurde 2017 ein digitaler Countdown enthüllt, der die Anzahl der verbleibenden Tage bis zum Untergang des jüdischen Staates herunterzählt. Sie geht auf den amtierenden, iranischen obersten Führer Ayatollah Ali Chamenei aus dem Jahr 2015 zurück, wonach Israel in – nach damaliger Rechnung – 25 Jahren (also bis zum Jahr 2040) nicht mehr existieren werde. Damals, 2015, sprach er davon, dass «das Krebsgeschwür Israel zerstört werden muss.»

«Wir laufen an der Leine Teherans»

Vor über 20 Jahren wurde Teheran dazu gedrängt, kein hoch angereichertes Atom-Programm zu entwickeln. Wladimir Orlow, Direktor des russischen Instituts für Strategische Studien, sagte einige Zeit später, im September 2005: «Wir müssen die Tatsache akzeptieren, dass der Iran eindeutig auf die Entwicklung seines eigenen umfassenden Nuklearprogramms gesetzt hat. Wir laufen an der Leine Teherans.»

Damals ging es darum, zu verhindern, dass der Iran waffenfähiges Uran anreichert. In einem einzigartigen Zeit- und Vertuschungs-Poker bauten die Mullahs ihr Atomprogramm auf und aus. Livenet dokumentierte Irans Atom-Poker immer wieder (hier ein paar Beispiele aus den Jahren 2008, 2009, 2015). Livenet besuchte auch die «Durban 2»-Koferenz in Genf, wo der damalige iranische Präsident, Mahmud Ahmadineschad, die Vernichtung Israels forderte (notabene auf einer UNO-Konferenz!).

Anreicherung über 60 Prozent

Seit April 2021 reichert der Iran Uran auf bis zu 60 Prozent und mehr an. Bei einer unangekündigten Inspektion fand die «Internationale Atom Energie Behörde» (IAEO) damals in einer Anlage Partikel, die bis 83,7 Prozent angereichert worden waren.

Im vergangenen Monat sagte Jacob Nagel, ehemaliger Sicherheitsberater des israelischen Premier Benjamin Netanjahu und ehemaliger Leiter des israelischen Nationalen Sicherheitsrates, dass der Iran den längsten Teil des Urananreicherungsprozesses bereits hinter sich hat. Laut Nagel sind die Sprünge von 20 sowie 60 Prozent die grössten (von letzterem hatte der Iran bereits 2021 laut IAEO mehr als 3,7 Tonnen). Jacob Nagel zu «Israel heute»: «Um von dort auf eine 90-protzentige Anreicherung zu kommen – die militärische Qualität – wird nur wenig Zeit benötigt.» Er geht davon aus, dass der Iran die Angriffe durch die Hisbollah und Hamas befeuert, um Israels Kräfte zu binden und die atomare Hochrüstung weitertreiben zu können.

Israel hält sich alle Optionen offen

Was genau der Iran mit seinem Angriff bezweckte, ist noch nicht ergründet. Um Vergeltung wird es kaum gegangen sein, dazu hätte es in den vergangenen Jahren ungleich grössere Gründe (nach Angriffen auf das Atomprogramm) gegeben. Zu den wahrscheinlicheren Szenarien gehört ein «Abtasten», wie weit kostengünstige Drohnen und Geschosse durch das israelische Schutzschild «Iron Dome» kommen.

Da der Iran bisher nicht in Eile war – für den Atom-Poker hat sich das Regime mittlerweile 23 Jahre Zeit gelassen – dürfte der nächtliche Angriff vom Wochenende sehr gut abgewogen worden sein. Es ist nicht anzunehmen, dass Teheran «nur» für eine Vergeltungsaktion riskiert, dass Israel die iranische Atom-Rüstungsarbeit der letzten Jahrzehnte auf die Stunde null zurück-bombt.

Möglich, dass der Moment gekommen ist, in dem sich der Iran mittlerweile hochgerüstet genug glaubt, Israel selbst und nicht mehr nur durch Stellvertreter wie die Hisbollah in einen Kreislauf weiterer Schläge und Gegenschläge zu ziehen und in einen Dreifronten-Krieg mit der Hamas im Süden, der Hisbollah im Norden sowie einer Attacke aus dem Osten zu verwickeln.

Saudis wohl an Seite Israels

Zu den grössten Rivalitäten im Nahen Osten gehört jene zwischen dem Iran und Saudi-Arabien. Die persischen Hüter des Schiitentums stehen in erbitterter Konkurrenz mit dem sunnitischen Königreich. Ein atomarer Angriff des Iran gegen Israel würde auch Saudi-Arabien sowie Israels sunnitische Nachbarn verheerend treffen.

Deshalb waren bereits frühere Attacken gegen iranische Atomanlagen im Nahen Osten zurückhaltend und formal kritisiert worden, in letzter Zeit kamen sich Saudi-Arabien und Israel näher, unter anderem soll das Land der Bibel beim saudischen Grossprojekt Neom mitwirken. Zumindest ein Hoffnungszeichen in einer wirren Zeit.

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Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

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