Immer weniger Bibelleser lesen die Bibel

Ein Mann beim Bibellesen
Wenn Bibel auf Statistik trifft, dann beherrschen gegenläufige Trends das Bild: Immer weniger Menschen verwenden immer mehr mediale Formen der Bibel. Dabei hat sie ihre prägende Kraft keineswegs verloren.

Haben Sie das schon einmal erlebt? Sie sitzen in einem Gottesdienst und die Person vorne auf der Kanzel bittet die Anwesenden, Psalm 139 aufzuschlagen. Sofort erfüllt ein gleichmässig rauschendes Blättern den Saal, bis alle in der Mitte ihrer Bibel bei Davids bekannten Worten angekommen sind. Wenn Sie das (noch) kennen, dann haben Sie es vermutlich im Ausland erlebt oder es ist schon viele Jahre her. Denn immer weniger Menschen lesen in der Bibel. Selbst bei Christinnen und Christen hat das selbstverständliche Aufschlagen von Gottes Wort deutlich nachgelassen.

Erstaunlicherweise hat die unsichere Zeit der Covid-Pandemie diese Situation nicht entspannt, sondern noch verschärft. Zu diesem Schluss kommt zum Beispiel Robert Briggs von der Amerikanischen Bibelgesellschaft: «Obwohl fast jeder Mensch in den USA Zugang zur Bibel hat, ist die Beschäftigung damit zurückgegangen. Das war ein konstanter Trend der letzten Jahre, und dieser hat sich seit Januar 2020 durch die Pandemie noch beschleunigt. Die Kirche muss vom 'Überlebensmodus' zurückfinden in den 'Jüngerschaftsmodus' – und das wird einiges an Innovation erfordern.»

Bibellesen wird multimedialer

Einen scheinbar gegenläufigen Trend beim Bibellesen betonen die Anbieter neuer medialer Formen der Bibel. Sie verzeichnen erhebliche Zuwächse. So wirbt die bekannteste Bibel-App «YouVersion» damit, dass die «Informationsrevolution» längst stattgefunden habe und stellt fest, dass ihre App im Jahr 2022 ungefähr 5,5 Milliarden Male geöffnet wurde. Diese Zahlen sind allerdings weltweit und sagen noch nichts darüber aus, ob und wie lange darin gelesen wurde. Sie zeigen aber deutlich, dass Menschen bei «Bibel» nicht mehr unbedingt an ein schwarzes Buch mit vielen Seiten denken, sondern sie multimedial verstehen – und nutzen.

In der evangelikalen Zeitschrift «Christianity Today» beschreibt Daniel Silliman die verschiedenen Formen der Bibel und wie oft sie zurzeit genutzt werden: 27 Prozent lesen die Bibel nach wie vor als Printausgabe, 19 Prozent auf einer App, 18 Prozent als Online-Bibel und 11 Prozent hören sie als Podcast bzw. Hörbuch. Diese Zahlen stammen zwar aus den USA, doch sie lassen sich mit leichten Schwankungen sicher auf das Leseverhalten europäischer Christinnen und Christen anwenden. Auch hierzulande wird ein Text mal eben kurz bei bibelserver.com online nachgeschaut, sind YouVersion und Co. beliebte Apps und «lesen» etliche ihre Bibel auf dem Weg zur Arbeit in Form eines Hörbuchs.

Die Crux mit der Statistik

Ist dies nun ein Grund, sich zu freuen, dass die Bibel längst in der medialen Gegenwart angekommen ist, oder ist es ein Grund zur Trauer, weil ihre Gesamtnutzung scheinbar trotzdem abnimmt? Das ist schwer zu sagen, denn die meisten Statistiken dazu sind nicht besonders aussagekräftig. Wer die oben genannten Zahlen zur Bibelnutzung addiert, kommt auf 75 Prozent. Fehlen hier 25 Prozent, die andere Bibelformen nutzen? Gab es die Möglichkeit zu Mehrfachnennungen? Die Amerikanische Bibelgesellschaft verrät es nicht. Manche Zahlen sind einfach alt. Das bekannte Statistikportal Statista zeigt immer noch eine Umfrage zum Bibellesen von 2011. Damals gaben 5 Prozent der Deutschen an, häufig in der Bibel zu lesen, 50 Prozent sagten «nie». Sicher helfen solche Umfragen, Trends auszumachen. Zum Beispiel den, dass das Bibellesen in den USA seit 2022 in kurzer Zeit dramatisch von 50 auf 39 Prozent gesunken ist (die Rede ist von Erwachsenen, die die Bibel mindestens dreimal im Jahr lesen).

Doch auch hier bleiben Fragen offen: War ein gewohnheitsmässiges Mitnehmen der Bibel in den Gottesdienst wie am Anfang beschrieben bereits lebensveränderndes Bibellesen? Oder war es fromme Tradition, die inzwischen bei vielen unterbleibt? Wenn Christen und Christinnen heute nach ihrem Bibellesen gefragt werden: Beziehen sie dabei ihre Hörbibel mit ein oder denken sie in erster Linie an das Buch, was daheim im Regal steht? Diese Unschärfe der Ergebnisse bezeichnet man in der Psychologie als Response Bias. Solche verzerrten Antworten entstehen aus den unterschiedlichsten Gründen:

  • Befragte können ihre echte Meinung nicht nennen, weil sie einfach nicht abgefragt wird. («Wie oft schlagen Sie Ihre Bibel auf?» Was soll man da antworten, wenn man sie hauptsächlich hört?)
  • Befragte wollen «gute» Antworten geben. (Nachdem man als gläubiger Mensch die Bibel als «wichtig» bezeichnet hat, fällt es schwer zuzugeben, dass man sie fast nie liest.)
  • Befragende suchen nach Ergebnissen, die die eigene Meinung unterstreichen. («Wir wissen ja, dass in den letzten Tagen die Menschen abfallen werden – und einige Umfrageergebnisse scheinen das zu unterstreichen.»)

Die Brecht-Perspektive

Neben all diesen Meinungen und Entwicklungen steht die Bibel selbst im Raum, die immer noch die hauptsächliche Informationsquelle für alles ist, was sich um den christlichen Gott dreht. Daran hat sich nichts geändert. Die Darstellungsformen der Bibel sind teilweise andere geworden und trotz etlicher Ungenauigkeiten in den Ergebnissen scheint es auch so zu sein, dass das regelmässige Auseinandersetzen gläubiger Menschen mit der Bibel abnimmt. Letztlich ist dies keine Modefrage, sondern eine nach der Relevanz. Wenn Christinnen und Christen die Bibel als relevant für ihr Leben ansehen, dann werden sie Wege finden, diese Bibel zu befragen. Typisches Beispiel dafür mag ausgerechnet ein Mann sein, der nicht für seinen Glauben bekannt geworden ist: Bert Brecht.

Der Dramatiker wurde nach dem überwältigenden Erfolg seiner «Dreigroschenoper» gefragt, welches Buch den stärksten Eindruck in seinem Leben hinterlassen hätte. Seine Antwort: «Sie werden lachen: die Bibel.» Bis heute hat sich nichts daran geändert, dass Menschen, die sie lesen, feststellen, wie wesentlich das alte Buch für ihr heutiges Leben ist. Während der Corona-Pandemie lasen weniger Menschen darin als vorher, aber diejenigen, die darin Trost suchten, fanden ihn. Es ist wohl auch eine Frage, mit welcher Perspektive die Bibel aufgeschlagen wird. Neugier ist dabei eine gute Voraussetzung.

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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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