Pakistan: Dreimal mehr Anklagen wegen «Blasphemie»
Eine Untersuchung der pakistanischen Nationalen Menschenrechtskommission (National Commission of Human Rights, kurz NCHR) ergab, dass in Pakistan in den ersten sieben Monaten dieses Jahres dreimal so viele Fälle von Blasphemie wie im gesamten letzten Jahr zur Anklage gebracht wurden. Am 25. Juli sassen 767 der Blasphemie beschuldigte Personen in pakistanischen Gefängnissen, während es im ganzen Jahr 2023 «nur» 213 waren, 64 im Jahr 2022, neun im Jahr 2021 und elf im Jahr 2020, so die vom NCHR gesammelten Daten.
Die NCHR mit Sitz in Islamabad wurde 2012 durch die pakistanische Regierung ins Leben gerufen, um – nicht zuletzt gegenüber dem Ausland – die Menschenrechtssituation in Pakistan kritisch zu begleiten.
Geheime Absprachen
Laut dem NCHR ist der markante Anstieg der Blasphemie-Fälle auf geheime Absprachen zwischen muslimischen Bürgerwehren und staatlichen Ermittlern zurückzuführen. «Die meisten Blasphemie-Fälle wurden bei der Cybercrime Unit der Federal Investigation Agency in Zusammenarbeit mit einem privaten Unternehmen registriert», stellte das NCHR fest und fügte hinzu, dass junge Männer durch eine Verführungstaktik ins Visier genommen wurden, bei der Frauen Pseudonyme benutzten, um sie zu blasphemischen Aktivitäten im Internet zu verleiten.
Bereits im Januar hatte eine Sonderabteilung der Polizei von Punjab ein Netzwerk aufgedeckt, das die umstrittenen Blasphemiegesetze ausnutzt, um Opfer zu erpressen. Dem Bericht zufolge wird ein Grossteil der Fälle von privaten «Bürgerwehren» vor Gericht gebracht, die von Anwälten geleitet und von Freiwilligen unterstützt werden, die das Internet nach Straftätern durchforsten. Eine solche Gruppe war für die Verurteilung von 27 Personen verantwortlich, die in den letzten drei Jahren zu lebenslanger Haft oder der Todesstrafe verurteilt wurden.
Der Bericht empfahl der Federal Investigation Agency (FIA), eine gründliche Untersuchung einzuleiten, um die Finanzierungsquelle der Bürgerwehr zu ermitteln. Die aktivste Bürgerwehr ist die Legal Commission on Blasphemy Pakistan (dt. Rechtskommission für Blasphemie in Pakistan), die mehr als 300 Fälle verfolgt und von Shiraz Ahmad Farooqi angeführt wird, dem Kläger in der Blasphemie-Verurteilung der 40-jährigen Christin Shagufta Kiran. Kiran wurde am 18. September von einem Sonderrichter in Islamabad zum Tode verurteilt.
Unmenschliche Haftbedingungen
Der Bericht des NCHR fordert nun eine «umfassende Überprüfung» der Rolle und der Rechenschaftspflicht sowohl der Regierung als auch privater Einrichtungen. Er wies auf die unmenschlichen Bedingungen hin, unter denen Blasphemie-Verdächtige in den Gefängnissen leben. «Personen, die der Gotteslästerung beschuldigt werden, werden gemeinsam in einzelnen, stark überfüllten Baracken untergebracht, um sie vor möglichem Schaden durch andere Insassen zu schützen, die sie angreifen oder bedrohen könnten», berichtet das NCHR. «Dies führt jedoch zu unmenschlichen Lebensbedingungen, da es den Baracken an angemessenen Einrichtungen mangelt und sie stark überbelegt sind. Die Häftlinge sind ausserdem Nötigung, Erpressung und Druck ausgesetzt, die sie manchmal zu weiteren Aktivitäten innerhalb des Gefängnisses ermutigen», heisst es in dem Bericht.
Konkrete Aktion gefordert
Das NCHR empfiehlt, die höchsten Ebenen der Regierung und der Justiz einzuschalten, um die Verwicklung der FIA mit muslimischen Einzelpersonen und Bürgerwehrgruppen, die Menschen in die Falle locken, aufzudecken. Der Bericht fordert ein gemeinsames Ermittlungsteam aus Beamten des Geheimdienstes, des Rechts- und des Innenministeriums, der FIA und anderer relevanter Abteilungen, um Fälle von «Blasphemie» zu untersuchen.
Im mehrheitlich muslimischen Pakistan kann schon der blosse Vorwurf der Blasphemie zu öffentlicher Empörung und zu gewalttätigen Ausschreitungen führen. Hunderte von Menschen wurden wegen angeblicher Blasphemie angeklagt und inhaftiert, und gegen einige wurde die Todesstrafe verhängt, obwohl bisher noch niemand hingerichtet wurde.
UN: «Ernste Besorgnis»
Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen stellte am 17. Oktober fest, dass es den pakistanischen Behörden nicht gelungen sei, Menschenrechtsverletzungen einzudämmen, darunter auch eine starke Zunahme der Gewalt im Zusammenhang mit Blasphemie. Der Ausschuss äusserte seine ernste Besorgnis über die häufigen Angriffe auf religiöse Minderheiten, darunter Anschuldigungen wegen Blasphemie, gezielte Tötungen, Lynchmorde, Gewalt durch den Mob, Zwangskonvertierungen und die Entweihung von Gebetsstätten. Die pakistanische Gesellschaft sei gegenüber religiöser Vielfalt zunehmend intolerant geworden. «Religiöse Minderheiten sind angesichts des zunehmenden religiösen Radikalismus einer ständigen Bedrohung durch Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt», so der Ausschuss.
Auf dem Weltverfolgungsindex 2024 von Open Doors, der die schwierigsten Orte für Christen auflistet, belegt Pakistan wie im Vorjahr den siebten Platz.
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