«Schlimmer als unser schlimmster Albtraum»
Eigentlich hätte Assaf Zeevi am Sonntag als Reiseleiter nach Israel reisen sollen. Er ist dort geboren, aufgewachsen und lebt bis heute für ein Drittel des Jahres in dem Land, den Rest der Zeit in der Bodenseeregion. Die Reise wurde abgesagt und heute sieht er rund um die Uhr die Nachrichten aus seiner Heimat – es ist, als ob er dort wäre. Seine Schwester mit Familie, seine Eltern sind vor Ort – alle Freunde wurden ins Militär eingezogen. Und er selbst ist vollkommen erschüttert. «Wenn jemand sagt, dass das ein Albtraum ist, dann stimmt das nicht; es ist vielfach schlimmer als unser schlimmster Albtraum, es ist die schwerste, erschütterndste Situation, die wir seit dem Holocaust erlebt haben.»
Frieden scheint unmöglich
Nichts in seinem Land funktioniere so gut wie die Sicherheit – doch genau diese habe am vergangenen Samstag nicht gegriffen, beschreibt Zeevi in einem sehr emotionalen Interview mit Livenet. «Wie kann es sein, dass sie an einer der angeblich unpassierbarsten Grenzen der Welt durchkommen? Wie kann es sein, dass bei einer über Monate geplanten Aktion mit tausenden Involvierten die Sicherheitsorgane nichts wussten? Wie kann es sein, dass Familien sieben Stunden lang schutzlos blieben und über hundert verschleppt werden konnten?»
Assaf Zeevi hat zwei Bücher über sein Heimatland geschrieben, eins davon über den Nahost-Konflikt. In einem früheren Livenet-Talk erklärte er bereits, dass es Frieden in seinen Augen nur auf persönlicher Ebene, nicht aber auf politischer Ebene geben kann. Dies scheint in diesen Tagen noch deutlicher geworden zu sein. Soziale Medien zeigen die Gräueltaten der Hamas und des palästinensischen Islamischen Dschihads filterlos, brutal ermordete Familien, idyllische Kibbuze, die in Minuten zu Schlachtfeldern werden, feiernde Menschenmassen auf Gazas Strassen. «Das sind Sachen, die eine Menschenseele nicht ertragen kann. Nach dem Ekel und dem Schock steigt eine Wut hoch, weil man Gerechtigkeit verlangt.»
Ein historisches Fenster geöffnet
Die Medien sprechen von einer möglichen Bodenoffensive, um gegen die Terrororganisation Hamas – vielfach mit ISIS oder al-Qaeda verglichen – vorzugehen und die Geiseln zu befreien, die sich in ihren Händen befinden. Wie lange dieser Krieg noch dauern wird, ist ungewiss. Doch Assaf Zeevi beobachtet, dass sich durch den Angriff am vergangenen Samstag ein «historisches Fenster» geöffnet habe: «Im Moment sieht jeder weltweit die wahren Absichten der islamischen Organisationen, nämlich jeden Juden in Israel zu töten. Das verbergen sie nicht, das ist ihr Traum. Und im Moment sieht jeder, dass Israel handeln und die Bedrohung sowohl der Hamas als auch der Hisbollah mit allen Mitteln und für jeden Preis beseitigen muss. Und dass die bisherige Konzeption des Duldens gefährlich war.»
Ruf nach Solidarität
Auf die Frage, wie man – auf politischer und persönlicher Ebene – Israel unterstützen kann, antwortet Zeevi: «Das Schlüsselwort ist, Solidarität zu zeigen.» So wie nach Beginn des Ukraine-Krieges. «Sobald Israelis ermordet werden, versuchen einige, es im politischen Rahmen einzuordnen», klagt er. «Dieses ‘Ja aber’ ist der Anfang der Rechtfertigung monströser Gräueltaten und schmerzt, weil wir uns allein fühlen. Ist unser Blut billiger, weil wir in einem politischen Konflikt leben? Die Ermordeten haben nichts getan, ausser in einem Land zu leben, in dem sie von anderen unerwünscht sind.» Es brauche Solidarität, Mitleid mit den Menschen und der Ruf nach Gerechtigkeit. «Es ist als Staat die schwerste Stunde, die wir je erlebt haben. Da braucht man Freunde, die einen umarmen, die den Schmerz mitempfinden. Und die in den Diskussionen im Internet und auf der Strasse ein klares Zeichen setzen und keinen Platz für Relativierungen, Verständnis für Terroristen, Rechtfertigungen von Mord oder Judenhass lassen.»
In diesen Ruf nach Solidarität steigt auch der Dachverband Freikirchen.ch ein. In einer Mitteilung vom 10. Oktober heisst es: «Als einziges demokratisches Land im Nahen Osten verdient Israel die Solidarität der Schweiz. Wir fordern daher das Schweizer Parlament auf, dass die Abstimmung im Nationalrat vom 16. Juni 2022 wiederholt wird und die Hamas als terroristische Organisation eingestuft wird. Und dass jegliche Zusammenarbeit oder allfällige Unterstützung des Gazastreifens sofort eingestellt wird, bis sich der Gazastreifen von diesem terroristischen Regime gelöst hat. Jetzt ist nicht die Zeit, über Art und Weise der Siedlungspolitik oder über das Los der Palästinenser zu diskutieren, sondern in Trauer für die vielen unschuldigen Opfer an der Seite Israels zu stehen.»
Auch die Schweizerische Evangelische Allianz drückt in den sozialen Medien ihre Besorgnis aus «angesichts des Angriffs der Hamas auf Israel, der eskalierten Gewalt und der unschuldigen zivilen Opfer auf beiden Seiten. Die Gewalt ist durch nichts zu rechtfertigen. Wir wollen die Hoffnung auf einen gerechten und nachhaltigen Frieden im Nahen Osten nicht aufgeben und rufen zum Gebet auf.»
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