Freikirchen in Deutschland haben Unschuld verloren
«Einer Umfrage unter Mitgliedern freikirchlicher Gemeinden in Deutschland zufolge hat jeder Sechste sexuelle Gewalt erlebt.» Mit diesem Satz beginnt das Nachrichtenmagazin Idea seinen Bericht über eine aufsehenerregende Befragung des Journalistenehepaars Daniel und Debora Höly aus Rheinbach. Es unterstreicht damit direkt die Spannung, die jede Berichterstattung zu dem sensiblen Thema begleitet: Schreibt man über Zahlen und Fakten oder über Menschen und Schicksale? Geht es um Anschuldigung, Aufarbeitung oder gar Vergebung? Bis vor Kurzem wurde im freikirchlichen Raum immer noch infrage gestellt: Betrifft die Diskussion rund um sexuelle Gewalt und Missbrauch die Freikirchen überhaupt? Ist das nicht eher ein Problem jedes Sportvereins? (Spoiler: Ja, das ist es auch.) Hat die katholische Kirche hier nicht eine unrühmliche Geschichte? (Stimmt, aber das liegt nicht, wie von evangelischer Seite lange gedacht wurde, am Zölibat.) Ist Missbrauch nicht momentan ein Thema in den evangelischen Landeskirchen? (Ja, hier werden seit Januar 2024 Forschungsergebnisse in der ForuM-Studie veröffentlich.)
Die Ahnung wuchs, dass sich auch in Freikirchen Abgründe auftäten, wenn man einmal genauer hinschauen würde. Genau das ist jetzt geschehen! In einer unabhängigen Umfrage wandten sich Debora und Daniel Höly an 6744 Menschen, davon 5294 aus freikirchlichem Umfeld. Die Ergebnisse sind so wie erwartet: Beim Thema Missbrauch gibt es keinen signifikanten Unterschied zu anderen Kirchen oder auch Vereinen. Aber nun – seit dem 8. Oktober 2024 – ist das nicht länger eine Mutmassung, sondern mit der Zusammenfassung «Sexuelle Gewalt im freikirchlichen Umfeld» liegen Fakten auf dem Tisch.
Warum es Gesichter und Geschichten braucht
Trotz aller Konzentration auf Zahlen sind es die Geschichten dahinter und einzelne Statements von Befragten, die berühren. Sie zeigen, dass es nicht um Statistik geht, sondern um Menschen. So wird zu Beginn der Umfrage Ille Ochs zitiert: «Das Schlimmste für Opfer, insbesondere sexuellen Missbrauchs, ist es, damit allein zu sein, nicht ernst genommen zu werden.» Die Theologin und Traumatherapeutin arbeitet nicht nur mit Betroffenen, sie gehört selbst dazu. In ihrem Buch «Im Käfig der Angst» schreibt die Schwester des ehemaligen FeG-Präses Peter Strauch vom Missbrauch durch ihren eigenen Vater.
Vollends persönlich und geradezu verstörend sind die kurzen Antwortsätze von Befragten, hinter denen jeweils unfassbares Elend steckt:
- «Ich wünschte man hätte mir damals geglaubt, dann müsste ich vielleicht nicht noch Jahrzehnte später so leiden.»
- «Für mich wäre nötig gewesen, dass mir zugesprochen worden wäre, nichts falsch gemacht zu haben. Ich fühlte mich jahrelang schuldig.»
- «Dass Gemeinde den Vorfall nicht unter den Teppich gekehrt hätte. Als Opfer ist man einfach nur lästig und hält den frommen Gemeindeprozess auf.»
Sehr explizit wird die folgende Befragte und belegt damit, dass es nicht nur um Banalitäten geht: «Er hat mir unter das T-Shirt gegriffen und meine Brüste gehalten. Ich musste auf dem Schoss sitzen bleiben und durfte nicht gehen. Er war und ist Gemeindemitglied.»
Warum Zahlen notwendig sind
Persönliche Berichte über sexuelle Gewalt gab es schon vorher. Ohne eine Umfrage wie die vorliegende erzeugen diese Lebensgeschichten jedoch zweierlei: grosses Entsetzen und Mitfühlen, gepaart mit dem entlastenden Gedanken: «Gut, dass so etwas bei uns nicht passiert». Die Untersuchung unterstreicht schmerzhaft, dass das nicht stimmt. Auch «intensiv evangelische Christen», wie Angela Merkel sie einmal nannte, missbrauchen Schutzbefohlene und Schwächere und nutzen dazu sogar die familiäre Struktur des freikirchlichen Umfelds. Hier liegt eine der Stärken eines zahlenbasierten Ansatzes: Die über 100-seitige Umfrageauswertung macht unmissverständlich klar, dass es nicht um Einzelfälle und seltene Entgleisungen geht, sondern um vielfache, fortgesetzte, strukturelle, oft sogar von der jeweiligen Leitung gedeckte sexuelle Gewalt.
Bis zu einem gewissen Grad können auch Zahlen berühren, denn sie bieten klare Hinweise auf Fehlverhalten und problematische Strukturen:
- 75 Prozent der Befragten beantwortete die Frage, ob es in ihrer Gemeinde Anlaufstellen zu sexuellem Missbrauch gibt, mit «Nein» oder «Weiss nicht».
- 43 Prozent erklären, dass in ihren Gemeinden nicht über das Thema sexueller Missbrauch gesprochen wird.
- Nur 5 Prozent der Opfer erstatten Anzeige oder leiten rechtliche Schritte gegen die Täter ein.
- 64 Prozent der Betroffenen in deutschen Freikirchen begegnen ihrem Täter weiterhin regelmässig.
Zahlen wie diese illustrieren nicht nur den Missbrauch eindrücklich, sie skizzieren auch das grosse Schweigen rundherum und vor allem das, was Debora Höly an anderer Stelle so zusammenfasst: «Zu viele Kinder blieben viel zu lange mit dem Unrecht allein – oft ihre ganze Kindheit und Jugendzeit, manche haben bis heute niemandem davon erzählt.»
Warum wir darüber reden müssen
Über alle persönlichen Berichte und konkreten Zahlen hinaus macht die Umfrage über sexuelle Gewalt eines deutlich: Es ist höchste Zeit zu reden! Dabei bleibt es schwer, für Grausamkeiten Worte zu finden. Es ist schwer auszusprechen, dass Missbrauch nicht nur durch «die da draussen» stattfindet, sondern mitten unter uns. Doch Sprachlosigkeit und Schweigen sind der Nährboden für alte Täter und neue Opfer. In diese Beziehung ist die konfessionsübergreifende Umfrage ein optimales Hilfsmittel: Auf dieser Basis lässt sich reden, nachfragen und ins Gespräch kommen. Denn sie ist kein Angriff, sie ist eine Bestandsaufnahme.
Sie ist aber auch kein Endergebnis, sondern Motivation zum Handeln. Die Seelsorgerin Zoë Bee wird zu Beginn darin zitiert: «Die Ergebnisse lösen bei mir Erschrecken und Fassungslosigkeit aus. Und Kampfgeist. Mein erster wieder einigermassen funktionierender Gedanke: Ich hätte es mir anders gewünscht, aber die Wahrheit muss ans Licht – uns allen zuliebe.» Solches Aufdecken verursacht Ängste bei Verantwortlichen in Freikirchen, aber die Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche der Schweiz, Rita Famos, begegnet diesen Vorbehalten und erklärt: «Ich bin überzeugt: Menschen treten nicht aus, weil wir uns den Problemen stellen, sondern wenn sie das Gefühl haben, dass wir wegschauen. Es bringt nichts, wenn wir den Deckel so lange draufhalten, bis alles explodiert. Das Risiko ist grösser, wenn wir nichts tun.» Erst recht das Risiko für die Betroffenen: Wir müssen darüber reden.
Die gesamte Umfragenauswertung steht hier kostenlos zum Download zur Verfügung.
Zum Thema:
Offener Brief: Der Missbrauch und die Freikirchen
Sexuelle Gewalt in Kirchen: Betroffene fühlen sich alleine gelassen
Paul Young: Innere Heilung nach Missbrauch