Was ist die Wurzel des Judenhasses?

Giuseppe Gracia ist Autor und Publizist
Antisemitismus existiert seit der Antike. Was ist seine tiefste Wurzel? Der Publizist Giuseppe Gracia bringt in der NZZ eine interessante These.

Die Juden waren immer ein kleines Volk, eine Minderheit unter allen Weltreichen wie den Persern, Griechen oder Römern. «Auch im Vergleich zur heutigen Macht der USA, der chinesischen oder arabischen Welt muss niemand fürchten, von Juden überrannt und erobert zu werden. Trotzdem gibt es kein Volk, das über Jahrtausende so gehasst wurde. Quer durch die Epochen wünschen Millionen von Antisemiten den Juden immer wieder die Auslöschung.» Im NZZ-Feuilleton vom 3. Juli 24 bringt der Publizist, Schriftsteller und Kommunikationsberater Giuseppe Gracia eine kurze, präzise Untersuchung der Wurzeln und Quellen des zivilisatorischen Phänomens «Antisemitismus».

In Antike und Aufklärung, von links und rechts

Judenfeindlichkeit gibt es seit der Antike; sie spitzte sich während der römischen Kaiserzeit zu und bekam neue Nahrung durch die islamische Variante, die sich seit dem 7. Jahrhundert ausbreitete. In der Neuzeit «wurden antisemitische Narrative über eine angeblich verborgene Weltherrschaft der Juden in Europa salonfähig, durch Texte wie die `Protokolle der Weisen von Zion` oder angesehene Denker wie Voltaire und Hegel, die den Juden die Erfindung des Monotheismus als Ursache vorhandener Weltprobleme vorwarfen», so Gracia. So schreibt Voltaire an die Juden: «Ihr übertrefft sämtliche Nationen mit euren unverschämten Märchen, eurem schlechten Benehmen und eurer Barbarei. Ihr habt es verdient, bestraft zu werden, denn das ist euer Schicksal.»

Dieser «schäumende Antisemitismus» bereitete einerseits den späteren Nazis den Boden für ihren Judenhass. Aber die Geschichte des frühen Marxismus und Sozialismus zeige ebenfalls Judenfeindlichkeit, Stalin bekämpfte die Juden und den «Zionismus»; er hatte offenbar geplant, «alle Juden in das autonome Gebiet Birobidschan zu deportieren und unterwegs ein Drittel von ihnen zu erschlagen».

Die NZZ stellt fest: «Auch Jahrzehnte nach dem Holocaust und der kommunistischen Verfolgung ist der Antisemitismus in Europa keine Randerscheinung.» Im Gegenteil: Er nehme wieder stark zu, «sei es durch die Migration aus islamischen Ländern, durch neofaschistische Kreise oder einen postkolonialen Wokeismus, der grosse Teile des westlichen Bildungs- und Kulturwesens dominiert und unter dem Etikett des Antikolonialismus und der Israelkritik den Islamismus hofiert. Die Relativierung des Holocausts verbindet sich mit islamischem Israelhass und links-grünen Darstellungen des Landes als eines weissen Kolonialprojekts.»

Anti-Israel-Propaganda der UNO

Gleichzeitig erscheine für die UNO Israel seit Jahren als der «unmenschlichste aller Orte», wenn man die Anti-Israel-Resolutionen mit denen gegen alle anderen Länder und Organisationen vergleicht: «Man misst systematisch mit zweierlei Mass, sekundiert von vielen Medien.»

Lässt sich das Israel-Palästina-Problem mit einer «Neueinteilung der Territorien» lösen? Gracia verneint: «Diese Lesart bleibt an der Oberfläche, ohne Sinn für die Wurzel des Problems. Unabhängig von Israel wütet der islamistische Judenhass nämlich seit Jahrhunderten und würde auch dann weiterbestehen, wenn der Nahe Osten ganz den Arabern gehörte. Es ist ein Hass mit dem erklärten Ziel, alle Juden weltweit auszulöschen.»

Die Neidtheorie

Warum taucht der Judenhass über die Jahrhunderte und Kulturen immer wieder neu auf? Ein Versuch, die Motive zu klären, ist die «Neidtheorie»: «Der überdurchschnittlich hohe Bildungsgrad von Juden und der Erfolg ihrer Kultur, ob wirtschaftlich, wissenschaftlich-technologisch oder moralisch, sollen den Neid von Nichtjuden wecken.» Zitiert wird H.G. Wells in einem Essay von 1936: «Der Jude rafft sich das Eigentum, er sichert sich seine Stellung. Der Nichtjude spürt, dass er durch all diese Flinkheit um seine Chancen betrogen wird. Er ist verblüfft und wird schliesslich zornig.»

Diese Theorie – rassistisch in sich selbst – wird aber nach Gracia den wahren Gründen nicht gerecht, da es auch (erfolg)reiche und angesehene Antisemiten gebe, die das Judentum trotzdem hassten.

Tiefstes Motiv Gotteshass?

Gracia stellt darum die These auf, dass die «tieferliegenden Ursachen» des Antisemitismus die Gottesfrage betreffen: «Der Gott der Bibel hat die Juden zum auserwählten Volk erklärt und ihnen die Zehn Gebote anvertraut, die zu den Grundlagen des Christentums und der westliche Zivilisation gehören.» Papst Benedikt XVI. hatte im Jahr 2010 zum 65. Gedenktag der Befreiung von Auschwitz erklärt: «Im Tiefsten wollte man mit dem Zerstören Israels, mit dem Austilgen dieses Volkes den Gott töten, der Abraham berufen, der am Sinai gesprochen und dort die bleibend gültigen Masse des Menschseins aufgerichtet hat (. . .). Wenn dieses Volk einfach durch sein Dasein Zeugnis von dem Gott ist, der zum Menschen gesprochen hat und ihn in Verantwortung nimmt, so sollte dieser Gott endlich tot sein und die Herrschaft nur noch dem Menschen gehören.»

Die Existenz eines Gottes, den man lieben und dessen Gebote man halten soll, sei «ein Ärgernis für alle, die selber im Chefsessel der Existenz sitzen wollen. Indem man das Judentum auslöscht, will man dieses Ärgernis auslöschen.» Gracia: «Man will vergessen, dass kein Mensch über seine Geburt, über das Geschenk von Liebe und Freiheit, über sein biologisches Geschlecht oder über den letzten Sinn des Lebens verfügt. Und man will vergessen, dass das Judentum, zusammen mit dem Christentum, die Seele der freien Welt ist.»

Der Westen muss weg

Letztlich werde heute mit dem Antisemitismus das Verschwinden der westlichen, aus jüdisch-christlichen Wurzeln gewachsenen Kultur gefordert – «zivilisatorischer Vatermord», wie es Gracia nennt: «Der Westen muss verschwinden, denn er wird nicht als Errungenschaft angesehen. Linke und islamistische Kreise sehen ihn als rassistisch-imperiales Krebsgeschwür der Welt, neofaschistische Kreise sehen ihn als Hort der Dekadenz und Entartung, gegen den nur eine Nation der Starken und Reinen hilft.»

Das Verschwinden dieser Kultur sei allerdings für Freiheit und Würde, für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit «eine Katastrophe». Am Ende stünden sich nicht Freunde und Feinde des Judentums gegenüber, sondern Freunde und Feinde der Freiheit – «einer Weisheit, die daran erinnert, dass Gott keine Erfindung des Menschen ist, sondern der Mensch eine Erfindung Gottes.» Gracia schliesst folgerichtig: «So bleibt der Antisemitismus eine Warnung vor dem Hochmut, das zu vergessen und allein auf weltliche Ideologien und Technologien zu setzen, im Glauben an Selbstoptimierung und Selbsterlösung.» Wer gegen Antisemitismus kämpft, «kämpft für eine Zivilisation, die um die Grenzen des Menschen weiss und gerade deshalb imstande ist, die Würde des Einzelnen zu schützen und zu garantieren.» Für diese Erinnerung steht – bei aller Fehlerhaftigkeit – Israel.

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Autor: Reinhold Scharnowski / Giuseppe Gracia
Quelle: Livenet / NZZ

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