Timothy und Sonalis Kampf gegen Menschenhandel

Timothy und Sonali Gaikwad, Leiter von Imcares, einer nationalen indischen NGO
Sonali und Timothy Gaikwad kämpfen in Mumbai gegen Menschenhandel – mit Aufklärungsfilmen und in einem eigens gegründeten Dorf, in dem sie Kinder vor Zuhältern schützen. Ein Bericht von Uwe Heimowski.

Ein typischer Morgen an einer typischen Kreuzung in Mumbai. Autos hupen ohne Pause, Taxis fahren dicht an dicht, Mopeds überholen halsbrecherisch, Menschen quetschen sich durch den Verkehr. Ein Laster bringt Schotter für eine Baugrube, zwanzig Arbeiter befüllen das Fundament für einen weiteren Wolkenkratzer, die in der Boomtown Indiens wie Pilze aus dem Boden schiessen. Bambusgerüste ragen in schwindelnde Höhen hinauf, Arbeiter hangeln sich an den Stangen entlang und hantieren mit ihren Werkzeugen. Sie verdingen sich als Tagelöhner, für viele die einzige Möglichkeit, sich eine warme Mahlzeit zu verdienen. Die Zahl der Arbeitsunfälle kennt niemand genau.

Auf den Bürgersteigen schlafen Menschen. Manche haben eine Zeitung ausgebreitet und liegen, ein Baby im Arm, einen halben Meter neben der Strasse, andere haben immerhin aus zerrissenen Tüten ein Plastikzelt errichtet. Grosse Familien wohnen in winzigen Blechhütten. An den meisten hängen ein paar Utensilien zum Verkauf. Wer ein paar Rupien investieren kann, startet sein «Business», sein eigenes Geschäft. In vielen dieser Hütten stehen Radios oder Minifernsehgeräte, der Strom wird «von der Regierung geborgt», also von der Hauptleitung abgezwackt.

Ehepaar Gaikwad

An dieser Kreuzung treffe ich Sonali und Timothy Gaikwad, die Leiter von Imcares, einer nationalen indischen NGO. Sie führen mich durch die Slums. Timothy kommt aus einer christlichen Familie, die Eltern arbeiteten 20 Jahre für die Heilsarmee. Durch sie hat er einen ehrlichen Glauben kennengelernt und sich entschieden, ebenfalls Jesus nachzufolgen. Auch sein Lebensthema ist durch diese Zeit geprägt: der Kampf gegen Armut und eines ihrer grausamsten Gesichter; Timothy kämpft gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution.

Nach der Schule macht Timothy eine Ausbildung zum Regisseur, besucht eine Bibelschule und lernt Sonali kennen. Gemeinsam arbeiten sie einige Jahre für ein internationales Hilfswerk. Später arbeiten sie für Imcares. Sie besuchen Frauen im Rotlichtviertel und arme Familien in den Slums. Immer wieder treffen sie auf Opfer von Menschenhandel. Viele davon sind Analphabeten. Sie kommen aus entlegenen Dörfern und fallen auf die Lügen der Menschenhändler herein, die ihnen gute Jobs in den Städten versprechen und sie dann an Bordellbesitzer verkaufen.

Das Übel der Welt bei der Wurzel packen

Timothy treibt die Frage um, wie man das Übel bei der Wurzel packen kann. Nach einigen Jahren hat Timothy, der nebenher als freier Filmemacher arbeitet, um die Arbeit von Imcares zu finanzieren, eine einschneidende Idee: Er verbindet seine Berufe miteinander. Auch Menschen, die nicht lesen und schreiben können, lieben Filme. Am liebsten Liebesfilme im typischen Bollywood-Stil. Timothy schreibt Drehbücher, besorgt Sponsoren und dreht mehrere Filme, in denen er das Schicksal von Frauen beschreibt, deren Familien auf Menschenhändler hereinfallen. Er entlarvt die Tricks, mit denen die Männer falsche Versprechungen machen und schildert die brutale Wirklichkeit in Bordellen. Diese Filme werden auf Dorfplätzen oder in Kirchgemeinden aufgeführt. Tausende von Menschen sehen sie an. Eine ausgesprochen erfolgreiche Präventionsarbeit.

Und doch erreichen sie nur einen Bruchteil der potenziellen Opfer. Allein in Mumbai gibt es Tausende von Sklaven in den Rotlichtvierteln. Da sind die betroffenen Frauen (seltener Männer), aber auch die Kinder der Prostituierten. Sie hausen unter den Betten, auf denen die Mütter ihrer «Arbeit» nachgehen müssen. Mit Gewalt oder Drogen werden sie ruhig gehalten, viele werden missbraucht und selbst zur Prostitution gezwungen.

«Agape Village» entsteht

Wieder werden Timothy und Sonali aktiv, sie gründen bei Imcares den Arbeitszweig «Agape Village», das «Dorf der (göttlichen) Liebe», in dem sie die Kinder unterbringen, denen sie zur Flucht verhelfen. Das Dorf liegt auf dem Land, weit genug ausserhalb der Stadt, sodass die Zuhälter es nicht finden. Die Mitarbeiter leben mit den Kindern in Familiengruppen zusammen, viele sind selbst ehemalige Opfer von Menschenhandel.

Die Bewohner des Agape Village starten den Tag mit Gebet und Gesang. Wir erleben einen Lobpreis, der uns tief unter die Haut geht. Schon Dreijährige singen und beten mit einer ungezwungenen Leidenschaft. Man spürt die heilsame Kraft, die in diesen Liedern steckt. Hier singen Kinder, die erlebt haben, dass Gott sie bedingungslos liebt und die Mitarbeiter es gut mit ihnen meinen – obwohl sie schon als Kleinkinder von Menschen missbraucht wurden.

Mit der gleichen Begeisterung widmen sich die Kinder in der Freizeit dem Kricketspiel, dem indischen Nationalsport. Sie nötigen den deutschen Besucher auf das Feld. Ich werfe auch einen Ball – und ernte schallendes Gelächter, als mein Versuch weit am Schläger vorbeigeht. Ich setze mich doch lieber an den Rand und feuere an.

Ein Junge gesellt sich zu mir. Er streichelt einen Hund. «Der gehört zu uns», erklärt er mir in gebrochenem Englisch. «Er war ein Strassenköter. Aber nun hat er ein Zuhause. Genau wie ich.» Der Kleine strahlt mich an.

Dieser Artikel erschien zuerst bei PRO Medienmagazin.

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Autor: Uwe Heimowski
Quelle: PRO Medienmagazin

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