Weg vom Profi-Kulturfenster
Jean-Daniel von Lerber ist ein Pionier und Kulturförderer erster Stunde der christlichen Pop- und Rockmusikszene der Schweiz, wobei sich sein Tätigkeitsfeld enorm vergrösserte. Der diplomierte Lehrer hatte ein so anerkanntes Image, dass er von dem Schweizer Clown himself, Dimitri, angefragt wurde, ob er sein Manager sein würde.
Nach 45 Jahren im Aufbruch
Was mit Larry Norman 1977 begann, steht heute mit aktuellen internationalen Bands wie Switchfoot und TRINITY oder dem Pantomimen Carlos Martínez noch mitten im zeitgenössischen Kulturgeschehen.
Seit 45 Jahren arbeitete Jean-Daniel von Lerber als Kulturagent, 30 davon auch mit Carlos Martínez, dem spanischen Meistermimen. Er übergibt die Agentur zwei Nachfolgerinnen, bleibt jedoch dem Kulturschaffen erhalten. Aufgrund seines immensen Engagements entstand ein Interview zu christlicher Kulturlandschaft, legendären Musikpionieren und «zurückgezogener» Lobpreiskultur. Und er verriet Livenet, zu welchen Ufern er mit seiner Frau Angela aufbrechen will.
Livenetredaktor Roland Streit, der den scheidenden Agenturleiter persönlich kennt, tauschte mit ihm schriftlich aus, während der gerade mitten im Tournee-Start mit Carlos Martínez in Barcelona war.
Welche waren deine persönlichen Highlights der vergangenen Jahrzehnte?
Jean-Daniel von Lerber: Es ist nicht ganz einfach, die Highlights aus 45 Jahren herauszupicken. Klar ist der Anfang: Larry Norman hat mich sowohl als Person wie mit seiner Musik nachhaltig geprägt. Die allerersten Konzerte im Dezember 1977 bleiben unvergesslich. Natürlich darf Koinonia nicht unerwähnt bleiben, die Jazz-Fusion Band, die ich anlässlich einer USA-Reise 1979 im Club «Golden Bear» in LA zum ersten Mal hörte. 1984 traten sie am Montreux Jazz Festival im bekannten Line-up auf mit Abraham Laboriel, Bill Maxwell, Alex Acuna, Harlan Rogers, Justo Almario und Hadely Hockensmith. Diese Formation eröffnete mir ein Universum. Was für eine Musik, was für ein Groove – und was für eine Selbstverständlichkeit, dem Geber ihrer Kreativität die Ehre zu geben!
Auch Adrian Snell hat meine Arbeit wesentlich mitgeprägt. Sein britischer Humor, sein Tiefgang, die Oratorien. Unvergessen bleibt die «Alpha und Omega» und die «Passion Tour», die wir mit Band, Produktion und über 100-köpfigem Chor in den 80er und 90er Jahren in der Schweiz organisiert haben. In Ergänzung zur Musik hat sich meine Arbeit in den Neunzigerjahren mehr und mehr in den Theaterbereich ausgeweitet. Mit Carlos Martínez, dem spanischen Pantomimen, den ich anlässlich der Christian Artist Seminare in DeBron, Holland kennenlernte, organisierte ich 1992 eine erste Tour in der Schweiz. Dank seiner «Sprachlosigkeit» bot sich ihm die internationale Bühne geradezu an. In den letzten 30 Jahren haben wir gemeinsam vier Kontinente bereist und gegen 40 Länder besucht. Ab 2010 war es mir vergönnt, mit einem der ganz Grossen, Dimitri, dem Clown von Verscio, zu arbeiten. Er kam damals auf mich zu mit der Anfrage, ob ich sein Agent werden wolle (dank seiner Freundschaft mit Carlos Martínez hatten wir uns schon länger persönlich gekannt). Ab 2010 bis zu seinem Ableben im Juli 2016 arbeitete ich für ihn, organisierte all seine Touren in der Schweiz und fuhr viele Kilometer mit ihm im Auto. Eine grosse Freude! Speziell erwähnen möchte ich auch Janeric Johansson, einen bildenden Künstler aus Malmö, Schweden, den ich ebenfalls in DeBron kennengelernt habe. Seine Kunst begeisterte uns. Diese Begeisterung mündete in einem Kunstband über sein Werk, einigen kleineren Ausstellungen und einen vertiefenden Blick in das, was Bilder ausdrücken können. Dank dem Kontakt zu ihm konnte ich mit Carlos Martínez 2016 und 2017 zwei Touren in China realisieren. Wie es genau dazu kam, ist eine weitere Geschichte…
Seit deinen Anfängen Ende der 1970er-Jahre gab es viele Veränderungen, welches sind für dich die Grössten?
2023 ist eine komplett andere Zeit verglichen mit den 70er/80er Jahren. Nicht nur technisch ist vieles anders, Veränderungen haben sich auch auf ganz anderen Ebenen vollzogen:
- Die Qualität der Künstler: In allen Sparten beherrschen sie ihr Handwerk heute besser.
- Diversifikation: Es gibt heute in allen Kunstformen herausragende Künstler, die vom Glauben geprägt sind.
- Die Promotion läuft heute über Social Media und kann viel individueller und unabhängiger als früher betrieben werden.
- Die inhaltlichen Veränderungen scheinen mir die Folgenschwersten: Anfänglich stand die Auseinandersetzung des Glaubens mit gesellschaftlich relevanten Themen im Vordergrund.
Musiker-Pioniere wie Larry Norman und Mark Heard aus den USA oder Freddy Peter, Chrigi & Simi und «Marchstei» aus der Schweiz griffen drängende Dinge unserer damaligen Welt auf. Sucht man diese Auseinandersetzung heute in Songs, sucht man oft vergebens. Die Szene hat sich fast ausschliesslich der Lobpreis- und Auferbauungs-Thematik verschrieben – oder anders ausgedrückt: Künstler, die sich einzig auf Lobpreis fokussieren, versinken aus gesellschaftlicher Sicht in der Bedeutungslosigkeit. Die Wandlung von «IN der Welt, aber nicht von der Welt» zu «in der Welt aber NICHT VON DER WELT» hat statt Brücken zu unseren Mitmenschen Gräben zwischen den verschiedenen Weltbildern aufgerissen.
Wo waren für dich Unterschiede vom säkularen und christlichen Kulturkuchen erlebbar?
Am direktesten erlebe ich diese zwei Welten mit Carlos Martínez. Als bekannter und respektierter Künstler spielt er an vielen Orten. Wir bewegen uns gerne in diesen Welten, machen wir doch überall dasselbe: Wir geben unser Bestes, verkehren mit den Ansprechpartnern auf Augenhöhe und in einer dankbaren Haltung. Zu diesem Themenkreis empfehle ich die kürzlich erschienene, sehr berührende Auto-Biographie von U2-Sänger Bono mit dem Titel «Surrender».
Was sind deine Wünsche für die (christliche) Kulturszene Schweiz?
All jenen, die sich neu in das weite Feld der Kunst hineinbegeben, möchte ich viel Rückenwind geben. Das ist mutig und – sollte es sich gar um eine berufliche Laufbahn handeln – immer auch mit Risiko verbunden. Dem Risiko, nicht verstanden zu werden, zu wenig Einkommen generieren zu können… Lebt eure Kreativität aus und bringt Farbe, Zuversicht und Hoffnung ins Grau dieser doch immer komplizierter und leider auch schwieriger werdenden Welt. Und wenn jemand fragen sollte, worin denn diese Zuversicht gründe, steht einer ausführlichen Auskunft nichts im Wege. Zentral scheint mir aber, dass jede und jeder von sich weiss, wer sie/er ist, wo ihre/seine Grenzen liegen und wer sie/er in Gott ist. Mit diesem Fundament sind alle Freiheiten gegeben, sich in jede erdenkliche Richtung zu entwickeln. Künstler, die dieses Fundament haben, prägten mich am nachhaltigsten. Deshalb ist der Austausch innerhalb der Kunstszene so wichtig. Da bietet ARTS+ eine ganz wichtige Plattform.
Aber Vorsicht: Missbraucht die Kunst nicht als Propaganda, als reines Mittel zum Zweck. Hans Rookmaker, der holländische Kunstkritiker und enge Freund des Philosophen Francis Schaeffer, schrieb dazu ein sehr lesenswertes Buch mit dem Titel «Art needs no justification» – Kunst braucht keine Rechtfertigung. Propaganda ist nie Kunst im eigentlichen Sinne.
Was ist dir persönlich heute im Glaubensleben wichtig?
Das Grundvertrauen auf Christus. Zu wissen, selber ein begnadeter Sünder zu sein, der berührt von dieser Gnade erzählen darf. «Geerdet» bleiben. Das prägt meine Beziehung zu meinen Mitmenschen. Es macht mich barmherzig und gleichzeitig erfüllt es mich mit Zuversicht, Hoffnung und Freude.
Wie sehen deine Zukunftspläne aus?
Mitte 2023 werden wir unsere jetzige Wohnung verlassen und den Hausrat einstellen. Geplant sind ein bis zwei Jahre, in denen ich zusammen mit meiner Frau Angela verschiedene Länder besuchen und die dortigen Kulturen durch längere Aufenthalte näher kennenlernen möchte. Ganz abseits aller Verpflichtungen, die unserem Leben während Jahrzehnten den Takt gegeben haben. Von dem, was nachher kommt, lassen wir uns überraschen.
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