Links, urban, gebildet – und intolerant

Eine Meinung gegen die andere
Eine europäische Studie kommt zu einem überraschenden Ergebnis: «Je gebildeter, reicher, städtischer und linker jemand ist, desto weniger werden Menschen akzeptiert, die ein anderes Weltbild haben».

Mit einem ganzseitigen Artikel bringt es die «Sonntagszeitung» vom 30. Juli 2023 an den Tag, was «Andersdenkende» - nicht zuletzt Christen – in Europa zunehmend erleben: eine zunehmende Intoleranz in politischen und ethischen Fragen. Eine grossangelegte Studie des Mercator Forum Migration und Demokratie (Uni Dresden) zeigt nun, dass die, die sich eigentlich als «weltoffen und tolerant» empfinden, es oft nicht sind: die Urbanen, Gebildeten und Wohlhabenden unserer Gesellschaft. «Andersdenkenden gegenüber grosszügig zeigen sich dafür jene mit einer konservativen Haltung, die auf dem Land wohnen und über weniger Geld und Schulbildung verfügen», schreibt Autorin Bettina Weber.

Internationale Untersuchung

Unter dem Thema «Polarisierung in Deutschland und Europa – eine Studie zu gesellschaftlichen Spaltungstendenzen in zehn europäischen Ländern» wurden 20'000 Menschen in Deutschland, Frankreich, Italien, Holland, Schweden, Spanien, Griechenland, Polen, Tschechien und Ungarn zu grossen Themen wie Klimawandel, Covid, Umgang mit sexuellen Minderheiten, Zuwanderung etc. befragt – ein «aussagekräftiger europäischer Querschnitt».

Dabei interessierte nicht nur, wie die Befragten zu den Themen stehen, sondern auch, was sie von denen halten, die die Sache genau andersherum sehen. Das Ergebnis fällt eindeutig aus: «Je gebildeter, reicher, städtischer und linker jemand ist, desto weniger werden Menschen akzeptiert, die ein anderes Weltbild haben.» Das bedeutet: «Jene, die sich für besonders offen halten, akzeptieren andere politische Meinungen am wenigsten». Quasi der umgekehrte Stadt-Land-Graben.

Laut dem Politologen Michael Hermann käme man in der Schweiz zu ähnlichen Resultaten.

Moralische Berechtigung zur Intoleranz

Hermann nennt auch den Grund für diese Intoleranz: «Weil Linke für sich in Anspruch nähmen, sich für das Gute einzusetzen, für Schwache und Minderheiten, sähen sie sich eher im Recht – auch im Recht, jene, die auf der 'falschen' Seite stehen, entsprechend hart anzugehen.»

Diese Gutmenschen-Intoleranz «führt zu jener gespaltenen Gesellschaft, die seit geraumer Zeit von den USA über Israel bis zu Deutschland und der Schweiz nachgerade inflationär beklagt wird», so die Autorin.

«Alles, wirklich alles wird sehr persönlich»

Dabei sei Polarisierung an sich nicht das Problem – sie gehöre zu einer funktionierenden Demokratie –, sondern die Toleranz gegenüber abweichenden Ansichten. Wenn die fehlt, findet nicht nur eine politische, sondern eine «affektive Polarisierung» statt: «Eine zunehmende Verknüpfung von politischer Meinung und kollektiver Identität» – und so liessen sich immer seltener politische Kompromisse finden.

Weber: «Grund dafür ist, dass ein bestimmtes Weltbild nicht mehr bloss als politische Haltung, sondern zunehmend als Teil der eigenen Identität verstanden wird. Es wird also auf einmal alles, wirklich alles, sehr persönlich. Die Folge, laut Studie: Wer die eigene Ansicht nicht teilt, wird schnell als bedrohlich empfunden – die Reaktion darauf sind 'Skepsis, Abwehr und Ausgrenzung'. Anders formuliert: Man hält Gegenüber mit anderen Meinungen schlicht nicht mehr aus.»

Kampf- und Totschlagbegriffe

Besteht jemand die Gesinnungsprüfung – vor allem bei den von den USA importierten Identitätsthemen wie Rasse und Gender – nicht oder wagt es, gewisse Dinge zu hinterfragen, «ist deshalb schnell von 'Hetze' die Rede, es fallen Kampf- und Totschlagbegriffe wie transphob, homophob, rassistisch, frauenfeindlich – oder gleich alles umfassend: Nazi. Statt lustvoll um das beste Argument zu streiten und dabei auch eigene Positionen bewusst zu hinterfragen, gibt man sich rechthaberisch, umgibt sich nur noch mit Gleichgesinnten und klopft sich gegenseitig auf die Schulter. Die kollektive moralische Erhabenheit verleiht ein gutes Gefühl».

Yips: «Young illiberal progressive» 

In Grossbritannien zeigte vor einem Jahr eine Studie, dass 13- bis 25-Jährige «davon überzeugt sind, dass ausnahmslos alle Menschen ihre Rechte und Freiheiten einfordern sollten.» Gleichzeitig «gab aber gut die Hälfte von ihnen an, dass Personen mit gegenteiligen Ansichten gecancelt werden sollten», so Bettina Weber. Es ist ein Novum: «Junge Menschen sind weniger tolerant gegenüber den Ansichten anderer als ihre Eltern und Grosseltern.» Im Englischen gibt es für dieses Phänomen bereits einen Namen: Yips, «Young illiberal progressives», junge engstirnige Progressive. Anmerkung: Wenn man diese Haltung noch als pubertär-radikale Intoleranz abtun könnte, wird die Cancel-Kultur zum echten Problem, wenn sie von gesellschaftlichen oder gar politischen Institutionen übernommen wird.

Der Artikel der Sonntagzeitung schliesst: «Die Ironie daran ist unübersehbar: Ausgerechnet jene, die sich als gesellschaftliche Avantgarde verstehen, als besonders fortschrittlich und tolerant, richten sich im geistigen Reduit ein».

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Autor: Reinhold Scharnowski / Bettina Weber
Quelle: Livenet / Sonntagszeitung

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