Das Missing-Link-Prinzip

Die Kirche sollte eine Priorität darauf legen, möglichst viele Menschen anzusprechen.
Das Missing-Link-Prinzip bezeichnet das fehlende Glied oder die fehlende Verbindung, ursprünglich in der Evolutionslehre oder der Soziologie. In Kirche und Gemeinde rückt es diejenigen in den Fokus, die oft übersehen werden.

Die Rede vom Missing Link kennen wir aus der Evolutionslehre oder der Soziologie. Bezeichnet wird damit das fehlende Glied, die fehlende Verbindung oder fehlende Beziehung. Und dieses Fehlen ist in Kirche und Gemeinde ein wunder Punkt. Das Missing-Link-Prinzip will die in den Fokus rücken, die unserer Aufmerksamkeit meist entgehen:

  • Welche Beziehungen pflegen wir nicht?
  • Welche Kontakte versäumen wir?
  • Welche Verbindungen ins Quartier sind abgerissen oder noch nie hergestellt worden?
  • Wer ist nicht vertreten in unseren Kirchen­vorstandssitzungen, Mitarbeitertreffen, Gottesdiensten?

Halten wir nicht mit diesen selbstkritischen Fragen inne, tappen wir in die Falle des von Kristin Butzer Strothmann beschriebenen «Angebot-Nachfrage-Dilemmas»: Diejenigen, die Angebote erstellen und gestalten sind auch diejenigen, die zu 90 Prozent diese Angebote wahrnehmen. Die anderen sind nicht da und kommen auch nicht. Die Kirchentreuen bleiben unter sich und erreichen bisher Unerreichte nur selten und zufällig. Und das, obwohl die Ehrenamtlichen bis an die Grenze ihrer Kräfte arbeiten, um die Angebote aufrecht zu erhalten. Und auch die Pfarrerinnen und Pfarrer haben ja mehr als genug Arbeit mit denen, die da sind, auch wenn es einen Leidensdruck über die «missing people» gibt.

Aus der Not, dass diejenigen (noch!) nicht da sind, die Haupt- und Ehrenamtliche doch gerne einbeziehen würden, könnten Gemeinden ein Prinzip machen: Wir arbeiten für die und mit denen, die (jetzt noch) nicht da sind – indem wir sie aufsuchen. Was – zugegeben – eine nicht so einfache Übung ist, denn wir vermissen sie ja – sie vermissen und brauchen uns nicht. Zum Glück gibt es wirkungsvolle praktische Hilfen, die auch noch jede Menge Spass machen:

1. «Wir & Hier» – ein Tool aus der Sozialraumorientierung in der Gemeinde- und Kirchentwicklung

In den letzten Jahren wurden viele wunderbare Hilfen zur Sozialraumerkundung entwickelt. Die midi-Toolbox «Wir & Hier» ist wohl die bekannteste. Es gibt ja Gemeinden, die völlig losgelöst von ihrem örtlichen Kontext arbeiten, wie Raumschiffe, die erst kürzlich gelandet sind. In «Raumschiff Enterprise» wurde bald nach der Landung ein Expeditionscorps losgeschickt, um die Umgebung zu erkunden. Damit lassen sich Kirchengemeinden leider gerne ganz lange Zeit. Die Toolbox hilft, hier und jetzt loszugehen. Einfach reinklicken, Spass haben und über neue Entdeckungen staunen.

2. «Persona» – ein Tool aus der Adressatenorientierung in der Organisationsentwicklung

Gründer orientieren sich heute nicht an Zielgruppen, sondern fokussieren einzelne exemplarische Menschen, ihre Bedürfnisse, Befürchtungen, Haltungen, Ziele, Interessen etc. Je konkreter es wird, desto besser. Viele von uns kennen es aus dem Konfirmandenunterricht: Wir malen ein Plakat mit den Umrissen eines Menschen, schreiben in den Kopf seine Gedanken, in die Hand seine Handlungen, in das Herz seine Wünsche, in die Füsse, welche Orte er besucht etc. Nicht viel anders, vielleicht etwas differenzierter, aber genauso lustvoll ist die Methode der «Persona». Der Clou: Je genauer wir sind, je mehr Informationen wir fiktiv (!) sammeln, desto näher sind wir am «Missing Link».

Als Kirche denken wir oft, wir müssten möglichst alle Menschen ansprechen – und machen dann die Erfahrung: Wir erreichen nur wenige. Es erscheint zunächst abwegig, ist aber vielfach erlebte Realität, die hinter der Idee der «Persona» steht: Je gezielter wir nur Einzelne in den Blick nehmen, desto mehr Menschen erreichen wir. Mit dieser Methode haben die Willow Creek-Gemeinde und die Saddleback Church in ihren ersten Jahren gearbeitet. Im Internet gibt es viele praktische Tools – die aber gar nicht nötig sind, wenn Gemeinden die Idee verstanden haben.

Achtung: Blinder Fleck!

Pfarrpersonen und Gemeinden haben sehr viele soziale Kontakte und denken deshalb, sie kennen schon ihren Sozialraum und die Menschen in ihrem Umfeld – und ignorieren deshalb die «blinden Flecke» in ihrer Wahrnehmung. Nach dem «Johari-Fenster», benannt nach den amerikanischen Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham, hilft gegen blinde Flecke nur eins: Andere teilen mir über mich mit, was ich selbst noch nicht weiss. Genau das leisten die Tools.

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Autor: Gunter Schmitt
Quelle: Magazin 3E 2/2024, SCM Bundes-Verlag

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