«Die Kirche in Indien wächst – zu schnell»
Rev. Vijayesh Lal ist Generalsekretär der «Evangelical Fellowship of India», dem Pendant zu unserer Evangelischen Allianz. Im Gespräch mit Livenet erklärt er, was in Indien wirklich abgeht.
Wächst die Kirche in Indien?
Rev. Vijayesh Lal: Die Kirche in Indien wächst phänomenal. Alle Bereiche der Gesellschaft reagieren auf das Evangelium – im ganzen Land, aber vor allem im Norden, im Punjab, in Uttar Pradesh, in Bihar und sogar in Jharkand, in Haryana – überall. Haryana und Bihar waren früher der Friedhof der Mission, heute ist es der Weinberg. Die unabhängigen freien Gemeinden haben sich vor kurzem gemeinsam organisiert. Das Wachstum ist nicht unbedingt Folge einer Strategie, sondern geschieht eigentlich «trotz uns». Gott handelt phänomenal.
Woher kommt dieses Wachstum?
Der wichtigste Grund sind Zeichen und Wunder. Die klassische Gemeindegründung ist getrieben von Wissen: Man liest die vier geistlichen Gesetze und nimmt Jesus an. In Indien läuft das nicht so. In Indien erlebt man Christus, und zwar zuerst als Heiler. So beginnt eine Beziehung zu ihm. Man beginnt, mit ihm zu leben und erkennt dann: Er ist der Herr der Herren, und er wird dein persönlicher Herr. Genau das geschieht. Aber Heilung ist meistens die Anfangserfahrung.
In Indien haben wir jetzt «Christuswärts-Bewegungen» (Christward Movements) – Bewegungen hin zur Person Jesus Christus. Das bedeutet nicht unbedingt organisiertes Christentum. Sie nennen sich «Hindu-Christusnachfolger». Viele von ihnen lassen sich nicht einmal taufen, aber sie beten niemand anders an, ihre Theologie ist solide, ihre Lieder und ihr Worship sind einheimisch. Sie haben verschiedene Namen – Missiologen haben bis jetzt im ganzen Land acht dieser Bewegungen identifiziert. Wenn man sie zusammenzählt, geht ihre Zahl in die Millionen.
Wie organisieren sich diese Bewegungen?
Ganz verschieden. Einige sammeln sich in Kirchen und Gemeinden, andere nicht. Eine dieser Bewegungen ist innerhalb der römisch-katholischen Kirche – es sind charismatische Katholiken. Überall sehen sie anders aus. Sie sind sehr fokussiert, Brahmanen gewinnen Brahmanen, viele sind Regierungsangestellte am Tag, Pastoren am Abend und Bischöfe am Sonntag. Das Problem der indischen Kirche ist nicht, dass sie nicht wächst, sondern dass sie zu schnell wächst. Wir sind schlecht ausgerüstet, mit dem Wachstum umzugehen.
Wie damals in China…
Genau. Was wir brauchen, ist eine Betonung auf Jüngerschaft und Leiterschaft. Wenn die Kirche so explosionsartig wächst, gibt es die Gefahr des Synchretismus, der falschen Lehre, und das geschieht auch. Die meisten Pastoren sind Pastoren aufgrund der Umstände, nicht der Ausbildung. Du wirst geheilt, lernst Jesus kennen, sprichst mit anderen darüber, sie nehmen auch Jesus an – und schon bist du ihr Pastor.
Seit wann geschieht dieses Wachstum?
Ich würde sagen, ein Durchbruch geschah mit dem DAWN-Movement und anderen in den 90er Jahren – Wolfgang Simson, Victor Choudhrie, Alex Abraham und andere. Daraus entstand eine Bewegung von kleinen Gruppen und Hausgemeinden, die jeweils ihre eigene Volksgruppe erreichte. Seit den frühen 2000er Jahren haben wir aber einen Durchbruch und ein Wachstum erlebt wir noch nie zuvor.
Indien ist bei uns eher als Land von Unterdrückung und Verfolgung bekannt…
Wenn du mich nach der indischen Kirche fragst, ist es eine wachsende, aber auch eine bedrohte Kirche. Unterdrückung ist da. Es gibt viele Gründe zur Freude, aber auch viel Arbeit zu tun. Die Mehrheit der Inder hat das Evangelium noch nicht gehört.
Wie reagieren die älteren Kirchen auf dieses Wachstum?
Viele ältere Kirchen sind Teil der Story – die, die nicht offen sind, bleiben für sich und ihre Zahlen gehen täglich zurück. Es gibt viele Berichte über die geistlichen Aufbrüche – was wir noch nicht haben, sind Daten. Ich versuche, Forschung anzustossen. Wir müssen Zahlen zum Wachstum haben, zum sozio-ökonomischen Status der Kirche – und wir müssen wissen, wie viele wieder zurückfallen, denn das kommt auch vor.
Weil wir zu wenig Daten haben, machen viele indische Leiter spektakuläre Behauptungen – zum Beispiel, dass 20 Prozent von Indern an Jesus glauben. Das stimmt einfach nicht, ich weiss das. Wichtig ist aber: Die Reaktion auf das Evangelium geht über die sozialen Grenzen hinweg. Es erfasst arme Leute und die Gebildeten – es breitet sich überall aus.
Indien hat sich ja stark verändert – es ist nicht mehr nur ein armes Land…
Wir haben immer noch Armut, viele Arbeitslose – aber ja, das Land hat sich stark verändert. Und das Evangelium fass besonders in der Mittelklasse Fuss. Die Verfolgung in Uttar Pradesh zum Beispiel ist eine Reaktion darauf, dass viele aus hohen Kasten zu Jesus kommen, nicht nur Dalits oder Stammesleute. Und nicht die Regierung geht gegen Christen aus höheren Kasten vor – sie schaut weg –, sondern die Hindu-Nationalisten und Fundamentalisten.
Das hat eine gewisse Logik – wo immer das Evangelium wächst, wächst auch der Widerstand
Genau. Das findet man überall in Asien. In Sri Lanka sind es die buddhistischen Fundamentalisten, in Myanmar ebenfalls, in Nepal sind es die Hindus. Früher friedliche Religionen – aber jetzt, wo das Evangelium sich ausbreitet, werden sie nicht nur defensiv, sondern aggresiv.
Man kann also sagen, dass Verfolgung quasi ein negativer Beweis für Erweckung ist.
Das ist in Indien sicher zu einem gewissen Grad zutreffend. Verfolgung kommt, weil die Kirche tiefer in die Gesellschaft hineinwächst. Aber manchmal gibt es auch Verfolgung, weil wir uns dumm anstellen. Darum zurück zu dem, was die Kirche in Indien braucht: Wir brauchen Ausbildung für unsere Pastoren und Leiter. Wir müssen uns bewusst auf Frauen konzentrieren – mehr als 60 Prozent der Kirche in Indien besteht aus Frauen. Und sie sind nicht angemessen in der Leiterschaft repräsentiert. Und: Indien ist eine junge Nation. Das Durchschnittsalter beträgt 28,4 Jahre, und wir konzentrieren uns nicht genug auf die jungen Menschen. Viele davon sind arbeitslos – laut Regierung sind christliche junge Männer die grösste Gruppe von Arbeitslosen in den Städten.
Wachstum darf nicht nur zahlenmässig sein…
Ja! Wir müssen uns die Frage stellen: Ja, Gott baut seine Kirche – aber was für eine Art von Kirche baut er? Welche Art von Wachstum erleben wir? Evangelisation ist gut, aber zu viele Leiter denken nur an Evangelisation, nicht an Jüngerschaft und geistliches Wachstum. Es ist eins, Christus anzunehmen – aber dann muss man jeden Tag mit ihm leben. Wie macht man das? Mit einem Wunder fängt es oft an – aber wie geht es weiter, vor allem, wenn Widerstand kommt? Also: Wachstum ist gut, wir freuen uns darüber, aber wir müssen unseren Blick in alle Richtungen lenken – in die Tiefe, auch in die Zukunft.
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